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Abb.6: Abb.: Günter Schönenberg (später George G. Shelton) mit Mutter Selma und Schwester Erna. Das Foto wurde am 17. August 1938 gemacht - einen Tag vor Günter Schönenbergs Flucht aus Nazi-Deutschland.Seine Eltern nahmen Günter Schönenberg 1933 vom Realgymnasium (heute Grillo-Gymnasium), dass er seit 1931 besucht hatte, weil auch dort die antisemitischen Übergriffe durch Lehrer und Schüler ständig zunahmen.[9] Daran anschließend besuchte Günter für kurze Zeit die Jüdische Volksschule. Günter Schönenberg sollte dann auf seine Auswanderung vorbereitet werden und einen Beruf erlernen. Zunächst begann er eine kaufmännische Ausbildung, die er jedoch schon bald wieder abbrechen musste, nur weil er jüdisch war. Danach sollte er eine Ausbildung als Schweißer bei der Schrottgroßhandlung Moses Stern AG in Gelsenkirchen machen. Als auch diese Firma "arisiert" wurde, musste Günter im Juni 1938 den Betrieb verlassen. Am 18. August 1938 gelang ihm die Flucht in die Niederlande. Im Mai 1940 überfiel das faschistische Deutschland die Niederlande, antisemitsche Maßnahmen des Besatzungsregimes waren schon bald an der Tagesordnung. Der Verfolgungsdruck wurde durch sich ständig steigernde antijüdische Maßnahmen kontinuierlich erhöht. Günter Schönenberg gelang zusammen mit einer Gruppe junger Männer am 3. November 1943 die Flucht aus den Niederlanden nach Frankreich. In einem für das Institut für Stadtgeschichte Gelsenkirchen verfassten Bericht schrieb Günter Schönenberg dazu, Zitat: "Für uns kam nun die Zeit "unterzutauchen". Falsche Papiere und Ausweise hatten die meisten von uns für viel Geld erkauft - was man noch hatte, wurde dafür verkauft. Um diese Zeit waren die holländischen "Untergrundbewegungen" noch nicht so gut organisiert und darum konnte man noch nicht viel Hilfe von ihnen erwarten. Nun kam der Tag im November 1943, als eine Gruppe von ca. zwölf jungen Männern mit falschen Wehrmachtspapieren, O.T.-Ausweisen und Reiseerlaubnissen einen Zug in Amsterdam bestieg, um via Den Haag und Brüssel nach Paris zu fahren. All das zum ersten Mal in den Jahren ohne den „gelben Stern", was uns sofort zu "S" (Straf)-Fällen gemacht hätte, wenn die SS uns geschnappt hätte. Natürlich war man ein wenig nervös, denn man konnte die Fahrt kaum als ein Abenteuer betrachten". Nach der Befreiung, die er in Südfrankreich erlebte, ging Günter Schönenberg nach kurzem Zwischenaufenthalt in Paris Anfang 1946 zunächst nach Amsterdam zurück, um von dort im Juni 1947 in die USA auszuwandern. George G. Shelton (Früher Günter Schönenberg) starb 2002 in den USA. Mehr erfahren: Lebens- und Leidenswege der Familie Schönenberg |
"Zwei Jahre bin ich in Katernberg zur Schule gegangen, mit unserem Umzug nach Gelsenkirchen kam ich auf die jüdische Schule an der Ringstraße. Als ich alt genug für die weiterführende Schule war, schickten meine Eltern mich auf das Realgymnasium. Als ich in der Untertertia war, hielten es meine Eltern vor dem Hintergrund der geplanten Auswanderung für sinnvoller, dass ich die Schule verlasse und einen Beruf erlerne. Mit einer entsprechenden Ausbildung hätte ich in den USA sofort eine Arbeit." Anm.: Hermann Cohns Abgangszeugnis vom Realgymnasium ist auf den 28. Oktober 1935 datiert.
"Meine Eltern nahmen mich vom Realgymnasium und ich begann eine Ausbildung in einer Schneiderei in Köln. [...] Wenn ich an meine frühe Schulzeit denke, fallen mir Fräulein Goldblatt und Lehrer Katz ein, sicher da gab es auch andere, aber an diese beiden erinnere ich mich besonders gut. Es war ja damals üblich, wenn man in der Schule gegen bestehende Regeln verstieß, dass man auch körperlich gemaßregelt wurde. Da ich ja nicht der Klassenprimus war, hatte ich des öfteren dieses "Vergnügen".
Meine Bar Mizwa hatte ich in Gelsenkirchen. Dr. Galliner, ein wundervoller Rabbiner, und Kantor Schul bereiteten mich vor und unterrichteten mich. Das war noch eine richtige Bar Mizwa, nicht so wie heute. Ich konnte auch nur einige wenige Freund einladen, es gab nur eine kleine Familienfeier. Damals stand der religiöse Aspekt mehr im Vordergrund.
Schon bevor Hitler an die Macht kam, gab es Straßenkämpfe zwischen Kommunisten und den Nazis in Gelsenkirchen. Ich habe die vielen Aufmärsche der SA und der Kommunisten in Gelsenkirchen gesehen, mit ihren Fahnen und Plakaten. Wir waren ja davon noch nicht betroffen, meine Eltern waren Sozialdemokraten. Vater sagte immer, diese Bewegungen kommen und gehen... wir dachten zu der Zeit noch, es wäre wie in der Weimarer Republik, eine Regierung kommt und stürzt wieder. Aber es sollte ganz anders kommen... 1933, ich war bereits auf dem Realgymnasium, begannen die nichtjüdischen Mitschüler und Kinder sich als "Arier" zu sehen, direkt von Anfang an, der Antisemitismus war plötzlich überall. Alle Deutschen folgten wie die Schafe, die Kinder haben es ihren Eltern nachgemacht.
Wir jüdischen Kinder wurden auf der Straße beschimpft und auch geschlagen. Auch meine engeren, nichtjüdischen Freunde wollten mit mir nichts mehr zu tun haben. Die Hetze gegen uns Juden war allgegenwärtig. Wir lasen es in den Zeitungen, hörten es im Radio, in den Reden von Hitler - dann wurde es auch in der Schule schlimmer.
Abb.8: Um 1935: Zwei jüdische Schüler werden vor ihren Klassenkameraden gedemütigt. An der Tafel antisemitische Hetze: "Der Jude ist unser größter Feind! Schützt Euch vor den Juden!" Die Nazis nannten dieses Schüren von Vorurteilen "Rassenlehre".Die Lehrer, die ich mochte, wurden entlassen. Sie waren meist Angehörige der katholischen Zentrumspartei oder Sozialdemokraten. Die anderen Lehrer wurden plötzlich Nazis. Ich erinnere mich an unseren Musiklehrer, ein wirklich ein guter Musiklehrer, auch der wurde weggejagt. Der neue Musiklehrer, Paul Storsberg, war der Anführer der SA-Kapelle, ein fürchterlicher Antisemit, wie auch unser Turnlehrer Paul Hohnroth. Wir waren elf jüdische Schüler, wir mussten in seiner Klasse jetzt hinten sitzen. Er redete grundsätzlich nicht mit uns, einer meiner Freunde war ein sehr guter Klavierspieler, bei diesem Lehrer scheiterte er. So etwas geschah in allen Klassen. Von Monat zu Monat wurde es für uns jüdischen Schüler schwieriger, viele verließen die Schule. Ich gehörte zu den letzten drei oder vier, die am Ende noch in der Schule waren. Auf dem Realgymnasium waren nur Jungen, die Mädchen gingen auf das Lyzeum. Keiner meiner nicht-jüdischen Freunde hielt mehr zu mir. Auch die nichtjüdischen Kinder aus der Nachbarschaft spielten nicht mehr mit mir, so wie sie es früher getan haben. |
[...] Am Nachmittag des 10. November 1938 war ich wieder in Gelsenkirchen, von Vater kein Lebenszeichen. Doch dann bekamen wir einen Anruf, er befand sich in einem Krankenhaus in Essen. In Gelsenkirchen wollte keiner helfen, weil er Jude war jeder ihn kannte. Irgend jemand hat in nach Essen ins Krankenhaus gebracht, wir wissen bis heute, nicht wer das war. Nach einer gewissen Zeit konnte er dann wieder nach Hause. Wir wussten nun, dass es wirklich allerhöchste Zeit war, Deutschland zu verlassen. Walter war ja schon mit Kindertransport weg, er war schon in Chicago. Meine Eltern drangen darauf, das es auch für mich soweit war: "Hermann, sie verhaften Jungen in deinem Alter, einfach so, von der Straße weg. Die werden nie wieder gesehen. Du kannst nicht länger bleiben!" Damals war ich war siebzehn, sie schafften es, mir einen Platz in einem Kindertransport nach Holland zu sichern, einer der letzten Transporte für unter 18jährige. Zuvor musste ich jedoch meine Papiere haben, Bescheinigungen, dass die Sozialversicherungen und alle Steuern bezahlt sind, um Deutschland verlassen zu können, durfte ein Jude keine Schulden beim Staat oder sonst wo haben. Also machte ich mich auf dem Weg zum Finanzamt und zur Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK).
Da war ein junger Mann hinter dem Schalter, ungefähr mein Alter. Als ich näher kam, fragte er mich: "Bist du nicht Herman Cohn?" Ich bejahte, und erkannte ihn, er war ein ehemaliger Mitschüler vom Realgymnasium. Er arbeitete jetzt bei der Ortskrankenkasse, warum auch immer er die Schule verlassen hat. Ich trug mein Anliegen vor und er fragte mich: "Darf ich dich was fragen? Ich habe ein Gerücht gehört, dass sie die Synagoge angesteckt haben. Stimmt das?" Ich konnte das nur bestätigen:"Natürlich stimmt das! Jeder in der Stadt weiß das. Die Feuerwehr kam nicht, bis die Synagoge abgebrannt war!" Er sagte darauf nur: "Ok, ich kümmere mich um deine Papiere ich komme gleich wieder." Er ging und ich wartete. Es dauerte 20 Minuten, bis er endlich wiederkam. Mit den Worten: "Der Chef will dich sehen." gab er mir meine Papiere ich ging in die zweite Etage zum Büro des Chefs der Ortskrankenkasse. Im Büro saß ein Deutscher hinter dem Schreibtisch, den ich nicht kannte und davor saß auf einem Stuhl ein Typ, der hohe Stiefel trug. Er trug keine Uniform, aber diese hohen schwarzen Stiefel, die unter den Hosenbeinen raus guckten... das waren genau solche Stiefel, wie sie nur die SS oder SA trug. Der Chef der Ortskrankenkasse fragte mich: "Bist du Hermann Cohn?" Ich antwortete:"Ja, der bin ich." Er fragte: "Kennst du diesen Mann?" und zeigte auf den im Stuhl. "Weißt du, wer das ist?" Ich verneinte. An den Namen erinnere ich mich nicht, aber in dem Moment, wo er den Namen nannte, wusste ich, dass ist der Gestapo-Chef von Gelsenkirchen. Ich hatte ihn nie zuvor gesehen, aber ich kannte den Namen, jeder Jude in Gelsenkirchen hatte diesen Namen schon gehört. Und da saß er, der Gestapochef, beim Chef der Ortskrankenkasse.
Der Gestapochef fragte mich: "Was für Geschichten hast du da erzählt?" Ich verstand nicht und fragte: "Was meinen sie?" Er sagte: "Gräuelmärchen!" Ich antwortete:"Ich habe keine Gräuelmärchen oder Gerüchte erzählt." Fragend starrte er mich an: "Wieso erzählst du, wir hätten die Synagoge angesteckt?" Es platzte so aus mir heraus: "Weil ihr es getan habt! Jeder weiß das! SA oder SS hat die Synagoge angesteckt, die Feuerwehr kam nicht, keiner hat gelöscht und die Synagoge ist bis auf die Grundmauern abgebrannt!" Drohend sagte er: "Wir werden dir beibringen, wie man die Wahrheit sagt. Du wirst keine Lügengeschichten mehr verbreiten. Wir werden dir das schon beibringen! Du wirst nie wieder Gräuelmärchen erzählen." Er stand auf und sagte: "Wir beide gehen jetzt zum Gestapo-Hauptquartier. Ich gehe genau fünf Schritte hinter dir, gehst du schneller, oder werden es sechs Meter, werde ich dich wegen Fluchtversuch erschießen. Ich möchte nur, das du das weisst. Halte den Abstand, geh' nicht schneller, versuch nicht wegzulaufen - ich erschieße dich."
Ich war zwar nie dort, aber jeder Jude in der Stadt wusste, wo sich das Gestapo-Hauptquartier war, so ging ich also los. Es befand sich in der zweiten Etage im Hans-Sachs-Haus. Ich lief durch die Straßen Gelsenkirchens wie ein Zombie, ich habe nicht weiter nachgedacht, bin nur gelaufen, habe den Abstand gehalten um ihm bloß kein Grund liefern, mich zu erschießen. Wir kamen am Hans-Sachs-Haus an, und da war eine große Stahltür im zweiten Stock, und als diese Tür hinter mir ins Schloss fiel, war ich fest davon überzeugt, hier kommst du nicht mehr lebend raus. Er schubste mich in eine Ecke des Raumes, Gesicht zur Wand. Da waren noch mehr Typen, alle in SS-Uniform. Der Gestapochef sagte etwas zu den anderen, ich weiß es nicht was, ich stand unter Schock. Bestimmt eine Stunde musste ich in der Ecke stehen, und dabei traten alle mich abwechselnd mit diesen schweren, schwarzen Stiefeln, schlugen mich, immer wieder, bis ich zusammenbrach. Und mit jedem Tritt, mit jedem Schlag brüllten sie:"Wo hat dein Vater das Geld versteckt?" Das war alles, was sie wissen wollten! Und sie schlugen immer weiter. Der Gestapochef sah auf meine Hände: "Du hast noch nie in deinem Leben gearbeitet, das sehe ich an deinen Händen. Wir werden dir das Arbeiten beibringen. Du wirst Kohlen schüppen, Steine schleppen, dass alles wirst du in Dachau lernen. Du wirst das Arbeiten lernen!" Und sie schlugen weiter auf mich ein.
Dann kam jemand und sagte: "Wir können ihn nicht festhalten." Der Typ, der meisten geschlagen hatte, der mich, wie er sich ausdrückte "an meinen Eiern draußen am Fahnenmast aufhängen" wollte, sagte: "Wir lassen dich gehen. Du hast genau zwei Minuten, dieses Gebäude zu verlassen. Bist du in zwei Minuten nicht verschwunden, werden wir dich wegen Fluchtversuch erschießen!" Mit diesen Worten öffnete er die große Stahltür und ich rannte. Ich sehe diese Stufen heute noch vor mir! Ich rannte, ich flog nach Hause. Dort angekommen, fragte meine Stiefmutter: "Was ist mit dir passiert? Ich sagte ihr nur: "Ich werde krank." Ich habe ihr nicht erzählt, was ich erlebt hatte. Da geschah so viel, ich wollte sie nicht noch mehr belasten. Das wichtigste für mich war, ich hatte die Bescheinigung von der Ortskrankenkasse, vom Finanzamt und ich wusste, damit würde ich mein Visum bekommen und kann endlich aus Deutschland raus. Meine Mutter glaubte mir, ich bekam tatsächlich eine Art Grippe,durch das, was mir da geschehen war. Ich lag im Bett, hatte sogar Temperatur. Ein, zwei Tage später war es dann soweit. Der Kindertransport, ich denke, es war einer der letzten aus Gelsenkirchen, brachte mich nach Holland. Alle diese Kindertransporte waren von ausländischen Hilfsorganisationen organisiert und finanziert, in Deutschland konnte das keiner machen.
Mit dem Kindertransport kamen wir zunächst in ein Camp in der Nähe von Amsterdam. Dort war ich ca. eine Woche, dann ging es weiter in eine Jugendherberge bei Utrecht, schließlich kam ich in eine Art Camp in der Nähe von Deventer. Da war es ganz gut, wir arbeiteten dort auf den Erdbeer- und Gemüsefeldern, einige von uns arbeiteten dort in einer Schreinerei. Wir kriegten ja keine richtigen Jobs, konnten nur dort im Camp arbeiten. Meine Eltern warteten derweil sehnsüchtig und voller Angst bis Ende Dezember 1939 in Gelsenkirchen auf ihr Visum und auf ihre Nummer. Dann endlich hatte das Konsulat in Stuttgart die Visa für meine Eltern und mich ausgestellt. In Rotterdam gingen wir gemeinsam an Bord eines Schiffes, dass uns in die USA brachte." Mehr erfahren: Lebens- und Leidenswege der Familie Siegfried Cohn
Abb. 9: Albert Gompertz, Soldat der US-Army, um 1943. Als Befreier kehrte er im Zuge der Landung der Alliierten in der Normandie (D-Day, 6. Juni 1944) nach Europa zurück. Albert Gompertz starb im Alter von 85 Jahren am 20. November 2006 in den USA."Im April 1928 kam ich in die jüdische Volksschule von Gelsenkirchen. Die Volksschule hatte acht Klassen. Nach vier Klassen musste entschieden werden, ob man zur höheren Schule gehen wollte, die dann zur Hochschulreife führte. Es gab damals drei Möglichkeiten der höheren Schule: Für Jungen gab es das Realgymnasium mit Latein, das Gymnasium mit Griechisch und für Mädchen nannte sich die höhere Schule Lyzeum. Ich beendete die vierte Klasse im Jahr 1932. Unser Lehrer an der jüdische Volksschule war Herr Katz. Jüdischen Religionsunterricht erhielten wir im Haus unseres Rabbiners Dr. Galliner und in der Synagoge. Wegen der getrennten Schulsysteme hatten wir keinen Kontakt zu nichtjüdischen Kindern. Während ich nicht mit nichtjüdischen Altersgenossen zusammen kam, hatte ich viele jüdische Freunde. Nach der Schule fuhren wir Fahrrad, spielten Schach, Tischtennis und andere Spiele. Etwa um 1932 schuf der 'Reichsbund jüdischer Frontsoldaten', bei dem mein Vater der örtliche Vorsitzende war, eine jüdische Jugendgruppe, die sich das "Schild" nannte, und wir trafen uns einmal in der Woche zum Turnen. An den Wochenenden trafen wir uns draußen zum Fußball spielen oder zur Leichtathletik wie z. B. Sprints, Hoch- und Weitsprung und ähnliches. Natürlich trafen uns die wachsenden antijüdischen Ressentiments und deprimierten mich und die anderen jüdischen Kinder, insbesondere, weil wir ständig auf der Hut sein mussten, nicht mit der Hitlerjugend in Kontakt zu kommen, oder mit anderen Gruppen, die uns verprügeln könnten. Im Frühjahr 1932 kam ich zum Realgymnasium an der Adolf-Hitler-Strasse in Gelsenkirchen. Ich begann in der Sexta und erhielt von da ab Lateinunterricht. Im nächsten Jahr kam ich in die Quinta, dann in die Quarta, wo ich dann zusätzlich noch Französischunterricht bekam. Nach der Quarta kam die Untertertia, und im Frühjahr 1936 kam ich in die Obertertia, wo ich dann Unterricht in Englisch als dritter Fremdsprache erhielt. Allerdings musste ich dann im September des Jahres diese Schule mit allen anderen jüdischen Schülern, von denen es nicht mehr sehr viele gab, verlassen, wie es neue Verordnungen der Nazi-Regierung vorsahen.
Die Polizei verhaftete mich am 10. November 1938 an dem Morgen nach der Kristallnacht, in der die meisten Synagogen niedergebrannt worden waren und die Geschäfte und Unternehmen in jüdischem Besitz in ganz Deutschland zerstört worden waren. Zusammen mit anderen jüdischen Männern aus meiner Nachbarschaft wurde ich zu der nahe gelegenen Polizeistation gebracht und eingesperrt. [...] Als dies passierte, lebte ich in einer Familie mit dem Namen Lewin und besuchte eine Schule für das Textilgewerbe in Cottbus, etwa 35 Meilen östlich von Berlin. [...] Ich hatte aber Glück: Ich denke, es war aus dem Gefühl heraus, dass ich dem Polizeichef in dem Gefängnis in Cottbus gegenüber betonte, dass ich 16 Jahre alt war (obwohl ich gerade fünf Tage vor meinem 17. Geburtstag stand). Für mich war es ein Glück, dass er kein besonders extremer Nationalsozialist war und er mich wegen meines Alters entließ. Ich hatte hier wirklich besonderes Glück, weil die meisten Männer, mit denen ich zusammen eingesperrt worden war, darunter auch meine Klassenkameraden, ins Konzentrationslager geschickt wurden. Nachdem ich frei gekommen war, kehrte ich zu dem Haus der Familie Lewin zurück und verbrachte die Nacht dort. Dann nahm ich einen Zug zurück nach Gelsenkirchen, weil ich als Jude die Schule nicht weiter besuchen durfte. Vom Zugfenster aus sah ich bei der Fahrt durch die Städte viele zerstörte Fensterscheiben bei Geschäften und viele Reste der niedergebrannten Synagogen. Ich war schockiert und hatte Angst. Als ich zu Hause ankam, war mein Vater immer noch im Gefängnis und ich musste zu meiner Bestürzung feststellen, dass auch das Geschäft unserer Familie zerstört worden war. Ich erfuhr, dass unsere Pelze auf die Straße geworfen worden waren und dass mein Bruder Fritz von einer johlenden Menge beleidigt und erniedrigt worden war, als er das zerbrochene Glas auf dem Bürgersteig zusammenfegen musste. Nach einer Woche im Gefängnis wurde mein Vater wieder freigelassen und damit konfrontiert, dass es ihm nun nicht mehr erlaubt sei, sein Geschäft fortzuführen, das von seinem Vater im Jahr 1889 gegründet worden war. Er wurde gezwungen, das Geschäft seinem Kürschnermeister, einem Nichtjuden, zu überlassen. Meinem Vater wurde nur erlaubt, für das Inventar einen kleinen Betrag entgegenzunehmen - das war das traurige Ende eines 50 Jahre alten Familienunternehmens. Als meinem Vater befohlen wurde, sein Geschäft aufzugeben und auch das Haus ohne Entschädigung abzugeben, war ihm erlaubt worden, das Inventar des Geschäfts zu verkaufen. Aber natürlich nur für einen Betrag, der keineswegs dem Wert entsprach. Als dies getan war, begann er, unseren persönlichen Besitz in einen Umzugscontainer zu packen, und er hoffte, dass er diesen mit nach Amerika nehmen könnte, obwohl er bis dahin noch keine Visa zum Verlassen Deutschlands oder für die Einwanderung in irgendein anderes Land hatte. Unsere Transportkisten wurden in einen großen Wagen gepackt, aber sie kamen nie aus Europa heraus. Wir erfuhren später, dass sie zerstört oder geplündert worden waren bei der Invasion Belgiens. So sahen wir nichts von unseren persönlichen Gegenständen je wieder. Bevor es so weit gekommen war, etwa um 1936, hatte Vater sich schon einmal um Visa für die Einreise in die USA beworben. Dort hatte Mutters Vater eine Cousine, eine Gesangslehrerin, die in New York lebte. [...] Wir brauchten eine Bürgschaft, bevor wir uns überhaupt um ein Visa für die USA bei der Botschaft bewerben konnten. Leider hatte unsere Verwandte aber nicht genug Geld und sie brauchte Zeit, um Helfer zu finden. Glücklicherweise schaffte sie es, finanzielle Unterstützung zu bekommen, so dass wir durch sie in der Lage waren, Ausreisevisa zu beantragen. Während mein Vater das Geschäft liquidierte, gelang es ihm, bei der Polizei Papiere zu besorgen, so dass mein Bruder Fritz und ich befristete Visa bekamen, um Deutschland zu verlassen und in ein Flüchtlingscamp in Holland zu kommen, das dort von den Holländern eingerichtet worden war. Mein jüngster Bruder Rolf, der zu dieser Zeit etwa zehn Jahre alt war, war bereits von einem nichtjüdischen Holländer über die Grenze geschmuggelt worden. So war Rolf schon aus dem Land gebracht und lebte bei seinen Großeltern. Aber obwohl die Eltern meiner Mutter in Holland lebten, erhielt meine Mutter kein Einreisevisum für Holland, weil auch die Holländer sich sehr restriktiv verhielten und Angst davor hatten, dass zu viele Menschen zu ihnen kämen. [...]
Als unsere Eltern im März 1939 Deutschland verlassen konnten, war die Familie wieder vereinigt und wir kamen in ein Flüchtlingslager, das "Lloyd-Hotel" hieß. Es lag zwischen dem Hauptbahnhof und dem Frachthafen in Amsterdam. Es war ein großes Fabrikgebäude, das in Schlafsäle eingeteilt war. Nur einige wenige verheiratete Paare hatten private Räume. Obwohl die Unterkunft ziemlich primitiv war, waren wir alle glücklich, aus Deutschland heraus und wieder zusammen zu sein. [...] Es dauerte bis August 1939, als dann meine Mutter und wir drei Jungs unsere Einreisevisa für die USA erhielten. [...] Wir erhielten die Visa, weil unsere Mutter, die in Holland geboren war, unter die holländische Quote fiel und wir Jungs unter 18 Jahren alt waren. Mein Vater hatte bis dahin sein Visum noch nicht erhalten, weil er unter die restriktivere deutsche Quote fiel. Und so war er nicht in der Lage, zusammen mit uns Holland zu verlassen. [...] Er hatte das Glück, dass er im Januar 1940 das Visum erhielt, nur wenige Monate, bevor die Deutschen Holland überfielen.[...] [10] Mehr erfahren: Experiences of Albert Gompertz (Englische, ungekürzte Orginalfassung) HIER LERNTE ... ERNST BACKAbb.12: Um 1933, Moritz Back mit seinen Kindern, v.li.: Ernst, Hilde und KlausAnläßlich seines Besuches in Gelsenkirchen im Jahr 2008 gab Ernst Back der WAZ Gelsenkirchen ein Interview. Ernst Back beschrieb darin seine Kindheit in Gelsenkirchen als unbeschwert. Auf die Frage, wann seine unbeschwerte Kindheit aufhörte, antwortete er: "Das war um das Jahr 1933. Da bin ich dann auch auf eine andere Schule gekommen. Vier Juden waren wir in der Klasse, ich erinnere mich an eine Situation, die war grausam. Da hat ein Lehrer die Klasse gezwungen, ein hetzerisches Antijudenlied zu singen - und wir waren anwesend. Ich erinnere mich auch noch, als ich das erste Mal auf dem Schulweg verprügelt wurde, weil ich Jude bin. „Ihr habt unsern Gott umgebracht”, haben sie mich angeschrien. Sie haben mich solange geprügelt, bis ich blutete." Anm.: Ernst Backs Abgangszeugnis ist auf den 1. Dezember 1938 datiert, er war der letzte jüdische Schüler, der das Städtische Real-Gymnasium an der damaligen Adolf-Hitler-Straße (Heute Grillo-Gymnasium) verlassen musste. Ernst Backs Bruder Klaus ( er änderte später seinen Vornamen in Klas), schilderte seine Erinnerungen und erwähnt darin auch mehrfach seinen älteren Bruder Ernst. Hier ein Auszug [11]: (... ) "Zur Zeit der Kristallnacht, im November 1938, lag unser Vater krank im Bett mit Gelbsucht. Meine Geschwister und ich wurden mitten in der Nacht von Schlägen an die großen Glasscheiben an der Wohnungstür geweckt. Ich hörte laute Stimmen. Mutter kam in unser Schlafzimmer und sagte, wir sollten uns nicht beunruhigen, und nach einer Weile wurde es wieder still und ich schlief weiter. Am Morgen war alles normal — aufstehen, zur Schule gehen, aber Vater sagte zu uns: "Seid bitte sehr vorsichtig, wenn ihr zur Schule geht. Geht den kürzesten Weg und schnell direkt zur Schule. Mein Schulweg führte von der Ebertstraße über den Neumarkt entlang der Bahnhofstraße, dann unter die Eisenbahn zur jüdischen Volksschule. Überall sah ich zerschlagene Fenster in den Läden und Kaufhäusern und Bemalungen mit Sprüchen von Judenhass. Schnell ging ich bestimmt, kam zur Schulmauer, die zerschlagen war, und wurde von der Lehrerin vor der Tür direkt wieder nach Hause geschickt. "Schulunterricht gibt es heute nicht. Meine Schwester Hilde war zu dieser Zeit nicht in Gelsenkirchen, nur mein Bruder Ernst und ich. Vater wurde in der Nacht nicht abgeholt. Ich habe dazu nur eine Überlegung, ob richtig oder falsch, weiß ich nicht: Auf Krankheit nahm man bestimmt keine Rücksicht, wenn man jüdische Männer holte und ins KZ sperrte. Es war wohl der Mut meiner Mutter - denn mutig war sie -, so habe ich verstanden und so wurde mir auch später erzählt. Und ich stelle mir auch vor, dass die Polizei, die Vater holen sollte, dieses vielleicht nicht tat, da sie Vater kannten. An diesem Tag verließen wir die Wohnung nicht mehr. Am Nachmittag wurde wieder an die Tür geschlagen. Es kamen einige Männer, zivil gekleidet. Sie gingen in die beiden Büroräume der Rechtsanwaltspraxis unseres Vaters und verwüsteten das ganze Büro, warfen das Bücherregal und Aktenregale um und zerstreuten alle Akten übet die beiden Büroräume. Dann gingen sie in das Schlafzimmer von Vater, schimpften und drohten, dass sie wiederkommen würden und Vater an das Fensterkreuz nageln würden. Vater kannte die Männer nicht. Er meinte, dass es sich möglicherweise um Leute handelte, mit denen er vielleicht mal am Gericht etwas zu tun gehabt hatte und die die Akten vernichten wollten. Diese Nacht und einige folgende Nächte, die nun kamen, blieben wir nicht in unserer Wohnung, sondern bei der Sekretärin, die bei meinem Vater gearbeitet hatte. Einige Tage später ging ich mit Mutter durch die Stadt. Sie wurde plötzlich von einer Krankenschwester vom katholischen Krankenhaus angesprochen und diese sorgte dafür, dass Vater ins Krankenhaus kam, wo man meinte, dass man ihn schützen konnte. Es wurden 1938 und 1939 Kindertransporte nach Holland, nach Großbritannien und nach Schweden organisiert. Dass wir drei Geschwister überhaupt gerettet wurden, ist wohl ein unglaubliches Glück. Der schwedische Staat hatte sich bereit erklärt, 500 bis 600 deutsche jüdische Kinder, deren Eltern, Einreisegenehmigungen für die USA hatten, in Schweden anzunehmen bis es möglich wäre, die Kinder wieder mit den Eltern in den USA zusammenzubringen. Unser Vater war Mitglied im Vorstand der jüdischen Gemeinde in Gelsenkirchen. Gelsenkirchen hatte in den 20er und Anfang der 30er Jahre einen Rabbiner, Emil Kronheim, der dann Rabbiner in Stockholm wurde. Dieser hatte Verbindung mit Vater und sorgte dafür, dass mein Bruder Ernst und ich in einem solchen Kindertransport nach Schweden kommen konnten." (...) Mehr erfahren: Lebens- und Leidenswege der Familie Back
Quellen
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Rede von Ron Gompertz am 24. November 2017 anlässlich der Stolperstein-Verlegung an der Hauptstraße 60:"Guten Tag, My name is Ron Gompertz. My name is Ron Gompertz. I’d like to say a few words as the Stolperstein for my father Fritz Gompertz is installed. Leo Gompertz enrolled his first son, Albert, at the Real Gymnasium in 1932, a year before Adolph Hitler and his Nazi Party came to power. Albert witnessed radical changes at school until he, along with the few remaining Jewish students were forced to leave in 1936. A Stolperstein for Albert was donated and installed several month ago. When Fritz was eleven years, he joined his older brother Albert at Grillo Gymnasium. By then Hochstraße (now Hauptstrasse) had been renamed Adolf Hitler Strasse. Swastika flags hung at the front of every classroom. Classes started and ended with "Heil Hitler.” Many long time teachers were fired. Those who remained were like Paul Hohnroth, a local Nazi activist who dressed in his SS Stormtrooper uniform each day. Students wore Hitler Youth uniforms to school, and bullied their Jewish classmates mercilessly. Jewish students were ignored by their teachers, except when they were being humiliated in front of the class. They typically received poor grades no matter how well they did. My father wrote briefly of his year at Real Gymnasium: “When I was eleven, I was permitted to attend the Real Gymnasium, but that lasted only a year before I was thrown out by the Nazi authorities for being a Jew. However this short time left a lasting impression on me. My homeroom teacher's name was Spengler - He was a real Nazi in sheep’s clothing and I hated every minute of every day there.” There is now a sign installed in the foyer of Grillo Gymnasium. It lists all the Jewish students who attended during the Nazi era. The office still has the academic records for many of those boys. After the ceremony I will go inside my father’s old school to see his report card. With gratitude to Andreas Jordan and Gunter Demnig for coordinating this installation. I thank Dr Andrea Niewerth, Rabbi Kornblum and all those who have helped me learn more about my Gelsenkirchen roots. I also thank my cousins Carole and Ron Reis for traveling all the way from New York. And my wife Michelle and our daughter Minna for supporting me in this important tribute. Thank you." |
Biografische Zusammenstellung: Andreas Jordan, Projektgruppe STOLPERSTEINE Gelsenkirchen. Mai 2016. (Nachträge Okt. 2016, Febr, Nov. 2017, Juni 2020) |