Rede von Jackie Shelton anlässlich der Stolperstein-Verlegung an der Wanner Straße 119:
"In den letzten Monaten seines Lebens sagte mein Vater jeden Tag zu mir: „Kind, ich bin immer bei Dir – IMMER, immer, immer, immer!“ Damit meinte er nicht, dass er immer physisch bei mir bleiben würde, denn wir wussten, dass sein Tod durch die unheilbare Krebserkrankung unausweichlich war. Er meinte, dass ich seine Gegenwart während meines ganzen Lebens in mir spüren würde – und so ist es tatsächlich. Mein Vater spürte selber während seines ganzen Lebens die Liebe seiner Familie in sich. Zu seiner Mutter Selma und seiner Schwester Erna hatte er ein besonders enges Verhältnis. So viele glückliche Erinnerungen verbanden sie mit diesem Ort hier. Es ist mir eine Ehre, heute mit Ihnen hier vor dem Haus zu stehen, in dem mein Vater aufgewachsen ist, und von einigen dieser Erinnerungen zu erzählen.
Wanner Straße 119. Telefonnummer 21802. Mehr als ein halbes Jahrhundert nach seiner Flucht aus Deutschland hatte mein Vater seine Heimatadresse und Telefonnummer immer noch fest im Kopf. Nach seiner Flucht hatte er andere Adressen und sogar andere Namen, während des Kriegs im besetzten Holland und in Frankreich und später in Amerika, aber dies war sein Zuhause, der Ort, an dem er geliebter Sohn, Bruder und Enkel gewesen war.
Dies war das Zuhause, in dem er als Günter Schönenberg auf die Welt kam und aufwuchs, nicht als George Schreuder, dem falschen Namen, den er in Holland und Frankreich benutzte oder als George Shelton, dem Namen, den er später in Amerika annahm. Das Zuhause mit der Familienwohnung im hinteren Teil und dem Ladengeschäft im vorderen Teil. Das Zuhause, in dem er jederzeit seine Großeltern Schönenberg besuchen konnte, die auf einem der oberen Stockwerke wohnten, bis sie starben, als mein Vater 8 Jahre alt war. Wo er von Opa Schönenberg immer besondere Bonbons bekam, die normalerweise unter Verschluss gehalten wurden. Bis sich mein Vater eines Tages selbst bediente und ganz schön Ärger bekam. Dies war das Zuhause, in dem seine Mutter jeden Freitagabend die Kerzen anzündete, um den jüdischen Sabbath zu begrüßen.
Das Zuhause, aus dem sich andere Juden oft den Schlüssel zum Jüdischen Friedhof abholten, der nur ein paar Häuser weiter lag. Das Zuhause, in dem sein Vater, ganz sparsamer Geschäftsmann, darauf achtete, dass das Licht im Geschäft ausgemacht wurde, wenn es nicht gebraucht wurde. Das Zuhause, das Schauplatz vieler glücklicher Familientreffen war, da meine Großmutter Selma Schönenberg, geb. Rosenthal das jüngste von 10 Geschwistern war und mein Großvater eins von 5 Geschwistern. Das Zuhause, das ein überwältigendes Gefühl von Wärme ausstrahlte, wie sich der beste Freund meines Vaters Herman Cohn (inzwischen 91) immer noch erinnert. Und wo er mit meinem Vater, meiner Tante und meiner Großmutter Grammophonplatten in der Küche hörten und zu der Musik über den schwarz-weißen Fußboden tanzten.
Dies war die Stätte einer glücklichen Kindheit und Jugend, wenigstens bis 1933, als die Nazis an die Macht kamen. Dann wurde sie zu einer Zuflucht vor der Außenwelt, in der sich Juden nicht länger willkommen fühlten, selbst wenn sie, wie die Familie meines Vaters, bereits seit mehr als 200 Jahren in Westfalen lebten. Und wo nun das von den Großeltern geerbte Geschäft seiner Eltern erst boykottiert und später „ arisiert“ wurde. Wo mein Vater nicht mehr die öffentliche Schule besuchen konnte und seine Freunde am Real-Gymnasium über Nacht ihre Haltung gegenüber Juden geändert hatten.
Wo er wegen seiner Größe, seines hellen Haars, seiner blauen Augen und seiner graden Nase noch vor die Klasse gebeten worden war, um seine deutsch-arischen Merkmale zu demonstrieren. Als er seinem Lehrer aber sagte, dass er jüdisch sei, wurde er von der Schule gewiesen. Er konnte dann nur noch eine jüdische Schule besuchen und in jüdischen Vereinen Sport treiben. Dieser Ort fühlte sich nach dem Tod seines eigenen Vaters 1936 leerer an. Er war so gefährlich geworden, dass er im August 1938 nach Holland ging. In der „Kristallnacht“, dem Pogrom im November 1938, wurde die Wohnung und das Geschäft in der Wanner Straße 119 komplett zerstört. Doch über Stunden öffnete keiner der Nachbarn hier im Haus meiner Großmutter und meiner Tante seine Tür und gewährte ihnen Zuflucht. Von diesem Ort machte sich 1939 auch meine Tante Erna nach Holland auf und sah, wie mein Vater, ihre Mutter nie wieder. Von hier wurde meine Großmutter zwangsweise in das „Jüdische Altersheim“ nach Bielefeld eingewiesen, von wo sie später nach Auschwitz deportiert wurde.
Wanner Straße 119 war nicht länger das Zuhause meines Vaters und Gelsenkirchen nicht länger seine Zuflucht, nachdem er Deutschland verlassen hatte. Als ein Jude mit falschen Papieren hatte er kein echtes Zuhause mehr, keine wirkliche Heimat mehr, kein Land und keine Nationalität mehr, der er sich zugehörig gefühlt hätte. Nach dem Krieg war er „heimatlos“, „staatenlos“ und sehr allein, wie er selber am 4. Mai 1945 an seine Cousins in Amerika schrieb: Nach dem Krieg war er „heimatlos“, „staatenlos“ und sehr allein, wie er selber am 4. Mai 1945 an seine Cousins in Amerika schrieb: “Of course I am very thankful that I saved my life but I miss my home and my dear family very, very much. It is the greatest sorrow in my life, to see them never again, my mother, aunt Toni, my sister and her husband . . . If only I knew they are dead, but I know nothing at all about them and life is triste for me.”
G-tt sei Dank fand er schließlich ein neues Zuhause in Amerika, dem Land von „Gleichberechtigung und Erfolg“ in den Worten meines Vaters. Dort traf er meine Mutter Ilse Shelton, geb. Piek, ursprünglich aus Berlin-Spandau und ihrerseits eine Überlebende des Kindertransports. Zusammen erschufen sie während mehr als 42 Jahren das gleiche warme Zuhause, das mein Vater während seiner Kindheit erlebt hatte. Gäste waren immer willkommen und manche Freunde verbrachten ausgedehnte Besuche bei meinen Eltern. Meine Mutter sagte immer, dass sie nie wusste, wen mein Vater zum Abendessen einladen würde, aber sie sorgte – und das nach ihrem eigenen Arbeitstag – immer dafür, dass ein schönes Abendessen auf dem Tisch stand und genug für alle zu Essen da war. Meine Eltern hatten ein wunderbares Zuhause in San Francisco, wo sie eng mit der jüdischen Gemeinschaft verbunden waren.
Heute lebe ich in demselben Zuhause mit meinem Mann Craig und unseren 3 Kindern, dem 10jährigen Aaron, dem 7jährigen Joshua und unserem dreijährigen Sohn Ilan, der mit Craig in San Francisco geblieben ist. Wie zuvor meine Eltern führen wir ein erfülltes und glückliches jüdisches Leben in San Francisco. Wir schicken unsere Kinder auf eine jüdische Schule, weil wir das gern möchten, nicht weil wir müssen. Wir feiern jeden Freitagabend den Shabbat , indem wir Kerzen in einem Paar Silberleuchter aus Deutschland anzünden, das über Generationen und Generationen weitervererbt wurde. Wir hören Radiomusik und tanzen durch das Haus, genau wie mein Vater es hier als kleiner Junge tat.
Ich bin dankbar, dass wir uns heute zusammen sowohl an die glücklichen wie auch an die schrecklichen Ereignisse erinnern, die sich hier vor über 70 Jahren im Leben meiner Großmutter, meiner Tante und meines Vaters zugetragen haben. Während es nicht meine Aufgabe ist, zu vergeben oder für Aussöhnung zu sorgen, glaube ich, dass es meine Pflicht ist, meiner Meinung nach sogar unserer aller Pflicht ist, uns an diese Ereignisse zu erinnern – das was wir auf Hebräisch „zachor“ nennen – und das ist es, was wir genau jetzt zusammen tun.
Vor 15 Jahren begleite ich mit meinem Mann zusammen meine Eltern nach Gelsenkirchen und wir gingen auf den Jüdischen Friedhof, um die Gräber meiner Vorfahren zu besuchen. Als mein Vater, der normalerweise nicht emotional war, am Grab seines Vaters stand, konnte ich sehen, dass es ihm die Kehle zuschnürte. In diesem Moment war er wieder in das heimatlich Gelsenkirchen zurückversetzt, in dem er vor so langer Zeit aufgewachsen war. Und ich bin sicher, dass er sich nicht nur an seinen Vater, sondern auch an seine Mutter und seine Schwester erinnerte, für die es keine Grabsteine auf dem Friedhof gibt.
Das ist genau der Grund, warum Ihr Projekt so bedeutsam ist. Wenn man einen geliebten Menschen in den Vernichtungslagern verloren hat, gibt es keine individuelle Gedenkstätte für ihn. Es gibt keinen Ort des Trosts, keinen Friedhof, kein Denkmal, das zeigt, wo dieser Mensch gelebt hat oder gestorben ist. Keinen Platz, den man besuchen könnte, wo man das Kaddish Gebet sagen könnte oder seines Lebens gedenken könnte. Dank des Stolperstein- Projekts haben wir jetzt einen Ort, um meiner Großmutter, meiner Tante und meines Vater genau hier in Gelsenkirchen zu gedenken. Nicht nur einen Ort, um uns daran zu erinnern, wo sich ihr Leben für immer zum Tragischen geändert hat, sondern auch einen Ort, um daran zu erinnern, wo sie ihr Leben vorher voll ausgekostet haben. Und es ist ein Ort für Sie alle, um sich inmitten des Alltagslebens in Gelsenkirchen an diejenigen zu erinnern, die einmal vor all diesen Jahren Teil dieser Gemeinschaft waren.
Wir erinnern uns noch auf eine weitere Weise an die, die vor uns kamen: Durch Namen und durch Geschichten. In der jüdischen Tradition ist es üblich, Kinder nach geliebten Verstorbenen zu benennen. So fühlte ich mich meiner Großmutter und Tante immer verbunden, weil ich ihre Namen trage. Jacqueline Selma Erna. Aaron Günter. Joshua George. In unserer Familie stehen wir alle in Verbindung zu denen, die vor uns kamen.
Wir erzählen auch Geschichten aus ihrem Leben. Auf diese Weise fühlten sich meine Oma Selma und meine Tante Erna wie reale Personen für mich an (hatte ich das Gefühl, meine Oma Selma und meine Tante Erna zu kennen) – durch die Geschichten meines Vaters. Gestern war ich mit meinen Kinder in Bielefeld, von wo aus meine Großmutter Selma und meine Großtante Antoine Meyer nach Auschwitz deportiert wurden. Ein Denkmal dort zitiert den Psalm 78: „Damit die nächste Generation sie kennen, auch die noch nicht geborenen Kinder, und sie wiederum ihren Kindern hiervon erzählen.“ Für meinen Vater war ich das Kind, das noch nicht geboren war. Und ich erzähle nun meinen Kindern die Geschichte und bringe sie hierher, um ihnen zu zeigen, wo sie stattfand. So geht die Geschichte immer weiter. L’dor v’dor – von Generation zu Generation.
In diesem Sinn möchte ich nun ein paar Worte zur Bedeutung dieses Besuchs an meine Kinder richten :
Aaron and Joshua, it is so special that you are here with me today. As a matter of fact, your presence is the most important thing about being here. You see, I know the story about my father and his family, and Daddy and I were even here in Gelsenkirchen, at this house, many years ago, with Oma and Opa Rocks. But by you coming here, now you know the story too.
I know you feel a tremendous connection to your Opa Rocks. Aaron, you came up with his name because of the fact that we always left rocks at the cemetery when we went to visit his grave – a Jewish custom – hence the name “Opa Rocks.” And you both helped me collect rocks from Oma and Opa’s graves just a few weeks ago to bring here to the cemetery on the Wanner Strasse. Aaron, you even collected special rocks that you put on Opa’s grave in San Francisco to put on his father’s grave so that they would be able to “visit” each other. You are both so attuned to our family history.
While those rocks made the symbolic journey from San Francisco to Gelsenkirchen, your presence here is the real connection. By coming here and hearing and remembering the story of your Opa and his family, you are the bond between the generations. And you are living proof of our thriving and full Jewish life in America, through your attendance at Brandeis Hillel Day School, your love and connection to Judaism, and your pride in being Jewish. Your Opa would have been so proud of you – Aaron Gunter and Joshua George – you both carry on his name with such pride.
Daddy and I love you both so much. We hope that this trip will always remind you of the connection to your past, pride in your present, and ability to do good deeds in your future. Just like I was always the “gutes Kind” to my father, you two and Ilan are our “gute Kinder,” the best we could have, and we are so blessed to have you as our children.
Back to German:
Mein Vater hat seine Enkel nicht mehr kennengelernt, aber er ist heute hier bei ihnen. Ich bin sicher, dass er während der Widmung dieser Stolpersteine hier bei uns allen ist. Er wäre gerührt, dass wir alle zusammen gekommen sind, damit Selma Schönenberg, Erna Gradenwitz und Günter Schönenberg nie vergessen werden. Ich bin Ihnen allen überaus dankbar dafür, dass Sie hier sind, dass Sie diesen Gedenkstein geschaffen haben und dass Sie meine Großmutter, meine Tante und meinen Vater auf diese besondere Weise ehren. Das bedeutet uns sehr viel.
Und während ich hier stehe, möchte ich noch einen Menschen besonders würdigen – meinen Vater. Daddy, danke dafür, dass Du eine tiefe Liebe und enge Verbindung zu unserer Familie, unsere Herkunft und unserer Geschichte in mir erweckt hast. Du hast mich stolz auf meine Großeltern und meine Tante gemacht, die ich nie kennengelernt habe. Obwohl Du alles aus Deinem Kindheits-Zuhause verloren hattest, warst Du voller Erinnerungen an die, die Du liebtest. Und diese Liebe hast Du an mich weitergegeben. Dieses kostbare Geschenk geben Craig und ich nun an Aaron, Joshua und Ilan für künftige Generationen weiter.
Vielen Dank."
→ Rede Wanner Straße (PDF)
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