STOLPERSTEINE GELSENKIRCHEN
Gemeinsam erinnern statt Vergessen
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HIER WOHNTE
SELMA MÜLLER
GEB. LÖWENSTEIN
JG. 1872
FLUCHT 1933 HOLLAND
INTERNIERT WESTERBORK
DEPORTIERT 1943
SOBIBOR
ERMORDET 23.7.1943
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HIER WOHNTE
WALTER MÜLLER
JG. 1904
FLUCHT 1933 HOLLAND
INTERNIERT WESTERBORK
DEPORTIERT 1943
AUSCHWITZ-BIRKENAU
ERMORDET 1.1.1944
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Verlegeort: Ahstraße/Ecke Husemannstraße, Gelsenkirchen
Bis zu ihrer Flucht nach Holland am 9. Mai 1933 lebten die Witwe Selma Müller, geborene Löwenstein, geboren am 24. September 1872 in Emden und ihr Sohn Walter, geboren am 18. Mai 1904 in Gelsenkirchen, an der Ahstraße 27/29 in der Altstadt. Walters Brüder, die Zwillinge Carl und Julius Erich starben bei bzw. einige Tage nach der Geburt im November 1901, seine Schwester Margarete starb 1920.[1] Bereits seit Anfang des 19. Jahrhunderts wohnten Mitglieder der weitverzweigten Familie Müller in den Häusern an der Ahstraße 27 u. 29. Eigentümer der Häuser waren die Ehefrauen von Simon Müller und dessen Bruder Wilhelm Müller.[2]
Abb.1: Das Foto ist um 1920 in Herne an der Bahnhofstraße 111 aufgenommen worden. Mit auf dem Foto abgebildet sind Selma Müller (Bildmitte, sitzend) und ihr Sohn Walter (Unten rechts)
Abb.2 u. 3: Selmas Ehemann Simon Sally Müller starb am 11. Februar 1927 und wurde auf dem Jüdischen Friedhof in Gelsenkirchen an der Wanner Straße beigesetzt, dort befindet sich auch das Grab von Selma Müllers Vater Bendix Löwenstein.
Abb.: Als "Judenboykott" bezeichneten die Nationalsozialisten den Boykott jüdischer Geschäfte, Warenhäuser, Banken, Arztpraxen, Rechtsanwalts- und Notarkanzleien, den das NS-Regime seit März 1933 plante und am Samstag, dem 1. April 1933, in ganz Deutschland durchführen ließ.
Am Samstag, den 1. April 1933, spielten sich in ganz Deutschland bedrohliche Szenen ab, so auch in Gelsenkirchen. Männer in den braunen Uniformen der nationalsozialistischen Sturmabteilung (SA) postierten sich vor jüdischen Geschäften, Anwaltskanzleien und Arztpraxen. Potenzielle Kunden bedrohten die SA-Männer mit Gewalt. Auch die Botschaften auf ihren mitgebrachten Schildern waren eindeutig: "Deutsche! Wehrt euch! Kauft nicht bei Juden!" Zusätzlich streiften SA-Leute durch die Straßen und schrien ihre Hassparolen hinaus. Die Aktion war keineswegs nur ein makabrer Aprilscherz. An diesem Tag begannen die Nationalsozialisten ihren "Judenboykott", der die rücksichtlose Verfolgung der jüdischen Deutschen einleitete. [3]
In vielen Gegenden zertrümmerten SA-Leute Geschäftseinrichtungen und Büros. Zum Glück für die Opfer der antisemitischen Ausbrüche war der Beginn des Boykotts auf einen Samstag gelegt worden, den jüdischen Sabbat. Viele jüdische Geschäfte hatten daher geschlossen. Durch die Zeitungsmeldungen ahnten viele Juden zudem bereits vorher, was auf sie zukommen könnte. Die boykottierten Juden reagierten geschockt und mit Unverständnis. Ein Jude aus Hamburg war fassungslos: "Ich war sehr deutsch eingestellt, ich konnte das alles nicht begreifen".[4]
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Ein jüdischer Kaufmann in Berlin hängte gar ein Plakat in sein Schaufenster, auf dem er auf seine Verdienste als Soldat im Ersten Weltkrieg verwies: "Vier Jahre habe ich für Deutschland mein Leben eingesetzt." Für die meisten Juden bildete der 1. April 1933 den Anfang vom Ende der Illusion, als gleichberechtigte Deutsche akzeptiert zu werden. Die meisten von ihnen klammerten sich an die Hoffnung, dass die Regierung Hitler stürzen werde oder es zumindest nicht schlimmer würde.[5]
Der ebenfalls aus Gelsenkirchen stammende Wilhelm Müller besaß seit 1920 [6] auf dem Schlachthof eine Vieh- und Fleischagentur, verbunden mit einer Großschlachterei. Am 30. April 1933 stellte er den Betrieb auf Anordnung der neuen Machthaber ein und zog sich zu seinem Bruder nach Wilhelmshaven zurück. Noch im selben Jahr siedelte er nach Hamburg in die Isestraße 98 über.[7] Inzwischen hatte der "arische" Geschäftsführer seiner Firma in Gelsenkirchen die Genehmigung zur Wiedereröffnung des Betriebes bekommen, den er mit Wilhelm Müllers Söhnen Ernst Josef und Otto weiterführen wollte.
Als die drei aber Anfang August im Gelsenkirchener Schlachthof ankamen, wurden sie unter Todesdrohungen verjagt, der Geschäftsführer bewusstlos geschlagen. Dieser berichtete später im "Wiedergutmachungsverfahren", dass die Firma nicht verkauft worden sei, "sie hat einfach aufgehört zu bestehen". Ein Versuch Wilhelm Müllers, in Hamburg noch einmal in seinem Beruf Fuß zu fassen, scheiterte. In der Steuerkartei der Jüdischen Gemeinde ist sein Beruf mit "Rentner" angegeben. In der Tat rettete er wohl so viel von seinem Vermögen, dass er mit seiner Familie davon leben konnte. Seiner Frau Sophie hatte das Wohngrundstück in Gelsenkirchen gehört. Es wurde für etwa 20.000 RM an den Bürgermeister verkauft. Über die Umstände des Verkaufs wissen wir nichts, können aber vermuten, dass er nicht freiwillig erfolgte.[8] Vor dem Hintergrund dieser Ereignisse und dem zunehmenden Verfolgungsdruck durch die NS-Behörden beschlossen auch Selma und Walter Müller, am 9. Mai 1933 von Gelsenkirchen nach Holland zu fliehen. Nachdem die deutsche Wehrmacht im Mai 1940 die Niederlande überfiel und besetzte, begannen auch dort nach kurzer Zeit die gegen Juden gerichteten Maßnahmen der deutschen Besatzer.
Die Verfolgung und Entrechtung nahm in den Niederlanden mit der Registrierung aller Juden ihren Anfang. 1942 wurden dann alle jüdischen Menschen in verschiedenen Städten zusammengefasst, vor allem in Amsterdam und den Lagern Vught und Westerbork. Auch Selma Müller und ihr Sohn Walter gerieten in den mörderischen Strudel der NS-Mordmaschinerie.
Am 25. März 1942 heiratete Walter Müller in Amsterdam die am 28. Mai 1910 in Posen geborene Gerda Namm. Walter wurde am 1. Dezember 1942, seine Frau Gerda am 26. Mai 1943 und seine Mutter am 20. Juni 1943 in Westerbork interniert. Vier Wochen nach ihrer Internierung in Westerbork wurde Selma Müller nach Sobibor deportiert und dort ermordet. Walter blieb bis zum 14. September 1943 in Westerbork, dann wurde er mit seiner Frau nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Walter wurde in Auschwitz ermordet, seine Frau Gerda überlebte und kehrte nach Amsterdam zurück.[9]
Selma und Walter Müller wurden vom Amtsgericht Gelsenkirchen mit Beschluss vom 8. Februar 1952 für tot erklärt. Als amtlicher Todestag von Selma Müller wurde der 23. Juli 1943, für Sohn Walter wurde der 1. Januar 1944 festgestellt.[10]
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Abb.4: Um 1933. In diesen Häusern an der Ahstraße 27 u. 29 in Gelsenkirchen lebten einmal die Müllers. Hier war man glücklich, hier wurde gelacht, geweint und geliebt, bis die Menschen 1933 vor den neuen braunen Machthabern fliehen mussten, weil sie schutzlos dem Terror der Nazis gegen ihr Leben und Eigentum ausgesetzt waren - nur weil sie Juden waren.
Abb.5: Ausschnitt aus einem Foto aus der Nachkriegszeit. Gegenüber vom alten Rathaus am Machensplatz standen die Häuser Ahstraße 27 u. 29. Sie wurden Mitte der 70er Jahre im Zuge der Neugestaltung dieses Bereiches abgerissen
In Anlehnung an die nicht mehr vorhandene Bebauung Ahstraße Nr. 27 u. Nr. 29 werden die Stolpersteine für Selma und Walter Müller in Höhe der heutigen Einmündung Ahstraße/Husemannstraße verlegt. Die in Hamburg an der Isestraße lebenden Mitglieder der Familie Müller wurden nach Minsk deportiert, dort verliert sich von ihnen jede Spur. Auch in Hamburg erinnern Stolpersteine an die von dort verschleppten und von den Nazis ermordeten Mitglieder der Familie Müller. Die Patenschaften für die beiden Stolpersteine, die in Gelsenkirchen an Selma und Walter Müller erinnern, haben Hanneke und Peter Schmitz gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern eines Geschichtszusatzkurses (Jahrgangsstufe 13) der Gesamtschule Ückendorf übernommen.
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Quellen:
[1] Einwohnerkartei, StA Gelsenkirchen/ISG
[2] Hausakten Ahstraße 27 u. 29, ISG
[3, 4, 5] http://www.dw.de/wie-die-verfolgung-der-juden-begann/a-16700399 (Abruf Okt. 2013)
[6] Im Gewerbeverzeichnis bereits 1910 unter Viehhandlungen: Müller Wilhelm, Viehhandlung Ahstr. 27
Telefon- und Adressbuch 1914/15: Müller, Wilh., Viehhdlg. u. Engros-Metzgerei Ahstr. 27, Tel. 1953 (Dank an Volker Bruckmann)
[7] Christa Fladhammer/Maike Grünwaldt: Stolpersteine in der Hamburger Isestraße, Biographische Spurensuche
[8] ebda.
[9] Herinneringscentrum Kamp Westerbork, Persoonskaarten Walter u. Selma Müller, Stadsarchief Amsterdan
[10] Einwohnerkartei, StA Gelsenkirchen/ISG
Gedenkbuch Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945, Namensverzeichnis
Wahlliste vom 16. November 1930 zur Gründung der liberalen jüdischen Synagogengemeinde Gelsenkirchen, StA Gelsenkirchen
www.joods.nl (Abruf Okt. 2013)
Abbildungen:
[1, 2, 3] Familie Schmitz
[4, 5] Ausschnitte aus Ansichtskarten a.d. Sammlung Karlheinz Weichelt / Volker Bruckmann
Stolpersteine für Selma Müller und Ihren Sohn Walter, verlegt am 6. Oktober 2016
Projektgruppe STOLPERSTEINE Gelsenkirchen. Oktober 2013, Nachtrag Oktober 2016
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