STOLPERSTEINE GELSENKIRCHEN

Ausgrenzung erinnern


Stolpersteine Gelsenkirchen

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HIER WOHNTE

Verlegeort ALFRED HEYMANN

JG. 1888
DEPORTIERT 1942
GHETTO RIGA
ERMORDET

HIER WOHNTE

Verlegeort GRETE HEYMANN

GEB. MARCUS
JG. 1900
DEPORTIERT 1942
GHETTO RIGA
1944 Stutthof
ERMORDET

HIER WOHNTE

Verlegeort HANNELORE HEYMANN

JG. 1923
DEPORTIERT 1942
RIGA
VERHAFTET
'DIEBSTAHL EINER KARTOFFEL'
ERSCHOSSEN

Verlegung geplant 5/2024 (Gemeinschaftsverlegung), Verlegeort: Liboriusstr. 100, 45881 Gelsenkirchen

Alfred und Grete Heymann

Abb.1: Alfred und Grete Heymann, um 1922

Der Kaufmann Alfred Heymann, geboren am 24. August 1888 in Wattenscheid war mit der am 24. März 1900 in der ehemals selbständigen Gemeinde Linden (Heute Bochum-Linden) geborene Grete, geborene Marcus seit dem 11. Mai 1922 verheiratet. Das Ehepaar hatte eine Tochter, die am 24. Juni 1923 in Gelsenkirchen geborene Hannelore. Das Mädchen wurde im Frühjahr 1929 eingeschult, sie besuchte die jüdischen Schule an der Ringstraße 44. Ihr weiterer schulischer Weg ist bisher nicht bekannt.

Bereits vor 1933 waren Jüdinnen und Juden mit antijüdischen Ressentiments konfrontiert. Mit der Machtübergabe an die Nazis 1933 begann ihre systematische Ausgrenzung und Entrechtung. Die antisemitische Propaganda stigmatisierte sie, zunehmend schlug ihnen Misstrauen, Hass und Hetze der nichtjüdischen Bevölkerung, die mehr und mehr zu einer Ausgrenzungsgesellschaft wurde, entgegen. Scheinlegale Gesetze und Erlasse forcierten ihre ökonomische, politische und soziale Ausgrenzung. Berufsverbote, Boykotte und Zwangsverkäufe jüdischer Betriebe und Geschäfte, Zwangsumsiedelungen innerhalb des Wohnortes und zahlreiche weitere diskriminierende Verordnungen hatten eine weitgreifende gesellschaftliche Isolation zur Folge.

Hannelore Heymann, erster Schultag, Frühjahr 1929

Abb.2: Hannelore Heymann, erster Schultag, Frühjahr 1929

Alfred Heymanns Name findet sich auf der Wahlliste vom 16. November 1930 zur Gründung der liberalen jüdischen Synagogengemeinde, bereits zu diesem Zeitpunkt wird als Wohnanschrift die Liboriusstr. 100 in Gelsenkirchen genannt. Noch zum Stichtag 17. Mai der Volkszählung 1939 wohnte Familie Heymann an dieser Adresse. Doch auch Heymanns wurde nach dem 17. Mai 1939 zum Umzug in eines der Gelsenkirchener Ghettohäuser ("Judenhäuser") an der damaligen Hindenburgstr. 38 (Heute Husemannstr.) gezwungen. Die Registrierung, räumliche Zusammenlegung und spätere Kennzeichnung der Juden bot den Nazis die Möglichkeit zur "perfekten" Überwachung. Die Maßnahmen ermöglichten in der Folge die planmäßige Deportation und Ermordung der Juden.

Am 19. September 1941 trat die "Polizeiverordnung über die Kennzeichnung der Juden" in Kraft. Sie verpflichtete die Juden zum Tragen eines gelben Sterns auf ihrer Kleidung, davon waren auch die Heymanns betroffen. Gezwungen von der Gestapo musste die jüdische Gemeinde selbst die Sterne für 10 Pfennig pro Stück verkaufen. Für ihre Träger bedeutete sie weitere soziale Isolation und Stigmatisierung. Diskriminierung, Entrechtung und Ausgrenzung erfuhren damit eine weitere Steigerung. Die Einführung des gelben Davidsterns, in der NS-Propaganda "Judenstern" genannt, war eine der letzten Maßnahmen der Nationalsozialisten vor Beginn der Deportation.

Grete Heymann mit Tochter Hannelore

Abb.3: Grete Heymann mit Tochter Hannelore

Aus dem Ghettohaus Hindenburgstr. 38 wurde Familie Heymann mit weiteren 18 in diesem Haus zwangsweise untergebrachten Menschen im Januar 1942 einige Tage vor dem eigentlichen Deportationstermin zunächst in das temporäre "Judensammellager" in der Ausstellungshalle am Wildenbruchplatz gebracht. Die Abholung mit Bussen bzw. LKW an ihren Wohnanschriften und der Transport der Menschen in das Sammellager am Wildenbruchplatz fand öffentlich wahrnehmbar vor den Augen der Gelsenkirchener Stadtgesellschaft statt, die sich in vergleichbar kurzer Zeit nach der Machtübergabe an die Nazis zu einer Ausgrenzungsgesellschaft entwickelt hatte.

Die Chronik der Stadt Gelsenkirchen verzeichnet für den 27. Januar 1942: "In den städtischen Ausstellungshallen ist ein Judensammeltransport zusammengestellt worden. Es handelt sich um 506 Juden aus dem Präsidialbezirk Recklinghausen, die heute nach den Ostgebieten evakuiert werden. Unter ihnen befinden sich 350 Personen aus Gelsenkirchen. Vorerst verbleiben in unserer Stadt noch 132 meist alte und kränkliche Juden".

Die Stadtchronik Gelsenkirchen verzeichnet in 1944, 5. Woche: "Aus Luftschutzgründen sollen alle Holz- und Steinzäune in der Innenstadt niedergerissen werden, ebenso Schuppen und andere kleine Gebäude, die die Brandgefahr fördern und im Ernstfalle hinderlich sein könnten. Unter diese von Kreisleiter Plagemann als öffentlicher Luftschutzleiter angeordnete Maßnahme fiel auch die Beseitigung des großen Holzbaus der Ausstellungshalle auf dem Wildenbruchplatz".

Bereits kurz nach dem Krieg wurde dieses städtische Grundstück, der ehemalige Standort der Ausstellungshalle, wieder öffentlich genutzt. Jahrzehntelang wurde der Wildenbruchplatz zu den verschiedensten Anlässen und öffentlichen Vergnügungen genutzt: Kirmes, Wochenmärkte, Austellungen, Zirkus-Gastspiele und mehr. Niemand wollte mehr an die Geschehnisse an diesem Ort denken, an dem die allermeisten der Gelsenkirchener Juden gesammelt wurden, um von dort in einen gewaltsamen Tod deportiert zu werden.

Alfred Heymann und Tochter Hannelore

Abb.4: Alfred Heymann und Tochter Hannelore

Der Gelsenkirchener Holocaust-Überlebende Hermann Voosen, mit Frau und Tochter am 27. Januar 1942 ebenfalls nach Riga deportiert, schreibt in seinen Aufzeichnungen, dass Alfred Heymann im Ghetto Riga starb, seine Frau Grete und Tochter Hannelore mussten demnach nach der phasenweisen Auflösung des Ghettos ab etwa August 1943 im Truppenwirtsschaftslager der Waffen-SS in Riga (T.W.L. Riga, Aussenlager des KZ Kaiserwald) Zwangsarbeit verrichten. Hannelore wird zu einem nicht bekannten Zeitpunkt im Zentralgefängnis Riga ermordet, sie soll zuvor beim "Diebstahl einer Kartoffel" erwischt und daraufhin erschossen worden sein.

Die Ausstellungshalle, im Januar 1942 von den Nazis als Sammellager für die Deportationen jüdischer Menschen aus Gelsenkirchen genutzt

Abb.: Die Ausstellungshalle am Wildenbruchplatz, im Januar 1942 von den Nazis als temporäres Sammellager für die von der anstehenden Deportation betroffenen jüdischer Menschen von Gelsenkirchen nach Riga genutzt.

In dem von der jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen 1946 erstellten Listenmaterial - die Deportationen und die Schicksale der Jüdischen Gelsenkirchenerinnen und Gelsenkirchener betreffend - ist vermerkt, dass Hannelore im Zentralgefängnis Riga erschossen wurde und das ihre an Typhus erkrankte Mutter Grete bei dessen Auflösung im KZ Stutthof zurückgeblieben ist. Alfred, Grete und Hannelore Heymann wurden nach dem Krieg für tot erklärt.

Mit der Verlegung der Stolpersteine kehren ihre Name zurück - dorthin zurück, wo Alfred, Grete und Hannelore Heymann einst ihren Lebensmittelpunkt hatten. Die Stolperstein-Patenschaften und damit die Finanzierung der kleinen Denkmale für Familie Heymann haben Bundesjustizminister Marco Buschmann und die Bundestagsabgordneten Marcus Töns und Irene Mihalic übernommen.

Biografische Zusammenstellung: Andreas Jordan, Gelsenzentrum e.V., März 2023

Quellen:
Gedenkbuch Bundesarchiv
Yad Vashem
https://www.mappingthelives.org/ (Abruf 3/2023)
https://spurenimvest.de (Abruf 3/2023)
Listenmaterial d. Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen betr. Deportation 27. Januar 1942 Gelsenkirchen nach Riga
Vgl. auch: Deportationen der Juden aus Zentraleuropa nach Riga während des Holocausts; https://todesortriga.lv/ueber-die-deportationen/ (Abruf 3/2023)

Abbildungen:
Die Familienfotos (1-4) stammen aus Alben von Ellen Marcus, der Tochter von Hans Werner Marcus. Alle Fotos wurden von Marc Albano-Müller bildtechnisch bearbeitet, in der Bildqualität optimiert und uns freundlicherweise zur Verfügung gestellt.


Projektgruppe STOLPERSTEINE Gelsenkirchen, 3/2023

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