STOLPERSTEINE GELSENKIRCHEN

Ausgrenzung erinnern


Stolpersteine Gelsenkirchen

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HIER WOHNTE

Verlegeort FRIEDA ALEXANDER

GEB. COHN
JG. 1887
DEPORTIERT 1942
RIGA
ERMORDET 26.3.1942

HIER WOHNTE

Verlegeort DOROTHEA JULIA ALEXANDER

VERH. SASSEN
JG. 1915
FLUCHT HOLLAND
INTERNIERT WESTERBORK
DEPORTIERT 1943
AUSCHWITZ
ERMORDET 1.12.1944

HIER WOHNTE

Verlegeort MARGOT ALEXANDER

JG. 1919
FLUCHT 1939 HOLLAND
VERSTECKT GELEBT
BEFREIT / ÜBERLEBT

HIER WOHNTE

Verlegeort ERNST ALEXANDER

JG. 1922
KINDERTRANSPORT 1938
USA

Verlegeort: Ringstraße 67, Gelsenkirchen

Ernest Alexander wurde am 15. Dezember 1922 in Gelsenkirchen mit dem Vornamen Ernst als Sohn des aus Hagen stammenden jüdischen Kaufmanns Siegbert Alexander und seiner Frau Frieda geboren. Die Ehe wurde 1933 geschieden. Ernst Alexander hatte noch zwei Schwestern - Dorothea Julia, geboren am 19. März 1915, und Margot, geboren am 27. September 1919. Beide Schwestern flohen Ende der 1930er Jahre nach Holland.

Links: Dorothea Julia Sassen mit ihrem Sohn Jacob Ernst. Das Foto enstand vor der Synagoge in Sittard anlässlich des Purimfestes, wahrscheinlich 1940

Abb.1: Links: Dorothea Julia Sassen mit ihrem Sohn Jacob Ernst. Das Foto enstand vor der Synagoge in Sittard anlässlich des Purimfestes, wahrscheinlich 1940

Während Margot versteckt überleben konnte, wurde Dorothea Julia mit ihrer Familie über das Durchgangs- lager Westerbork nach Auschwitz verschleppt und dort am 1. Dezember 1944 ermordet. Ihre Kinder Jacob Ernst und Nathan Herman wurden im KZ Auschwitz ermordet, Ehemann Isedor Sassen kehrte als einziger Überlebender seiner Familie 1945 nach Hause zurück. In 2017 will die Stichting Stolpersteine Sittard-Gelen (NL) an der letzten Wohnanschrift Stolpersteine für die Kinder verlegen. Auch Siegbert Alexander wurde in Auschwitz ermordet. Ernst hingegen konnte 1938 mit einem Kindertransport in die USA in Sicherheit gebracht werden. Eine jüdische Familie in Nebraska adoptierte ihn.

Aus dieser Zeit ist ein Konvolut von Briefen und Postkarten erhalten, die Mutter Frieda zwischen September 1938 und November 1941 an ihren an ihren geliebten Sohn in den USA schrieb. Die in Israel lebenden Söhne von Ernest Alexander haben uns diese Briefe in digitaler Kopie zur Verfügung gestellt. Es sind bewegende Zeugnisse, die tiefe Einblicke in das jüdische Leben in Gelsenkirchen in dieser dunklen und schweren Zeit geben. Mutter Frieda beschreibt darin Warten und Bangen, sie beschreibt, wie sich Freude und Hoffnungslosigkeit im Alltag der jüdischen Menschen abwechseln. Sie berichtet darin auch von der Vertreibung aus ihrer Wohnung an der Ringstraße und den zwangsweisen "Umzug "in eines der so genannten Gelsenkirchener Judenhäuser an der Wanner Str. 4. Im letzter Brief deutet an, dass sie von der anstehenden Deportation erfahren hat. Am 27. Januar 1942 wird sie von Gelsenkirchen in das Ghetto Riga deportiert. Bei einer der Mordaktionen im Ghetto, bei denen die als "gesund und arbeitstauglich" geltenden Menschen von der SS ausgesiebt wurden und zunächst weiterleben "durften", wurde Frieda Alexander am 26. März 1942 ermordet.

Briefe an einen geretteten Sohn

Nachtrag Januar 2017: Unserer Anregung folgend, ist das Brief-Konvolut zwischenzeitlich von der Familie an Yad Vashem übergeben worden. Aufgenommen in die digitale Kollektion der Gedenkstätte Yad Vashem sind diese Briefe jetzt online verfügbar.

Bericht von Ernest Alexander

Ausschnitt Liegenschaften, um 1950

Abb.1: Rot markiert: Das Katholische Kranken- haus, Kirch-/Ringstrasse. (Die Ringstraße wurde in der NS-Zeit in "Von-Scheubner-Richter-Strasse" umbenannt, nach 1945 wurde die Umbennenung rückgängig gemacht)

"Ich bin im Dezember 1922 in Gelsenkirchen an der Ringstraße geboren, an der Ecke zur Kirchstraße, gegenüber vom Katholischen Krankenhaus. Ich hatte zwei ältere Schwestern, und als jüngster und einziger Sohn wurde ich sehr verwöhnt. Wir waren ziemlich arm, wie die meisten Menschen in unserer Nachbarschaft, aber das hatte keinen Einfluss auf die Beziehungen mit ihnen. Die Leute waren im Allgemeinen katholisch und ich hatte viele Freunde unter ihnen. Die Zeiten waren für alle nicht gut.


Als im Januar 1933 die Wahlen eine neue Regierung hervorbrachten, folgte ein großer Wechsel. Die Nacht vom 30. Januar kann ich nie vergessen, obwohl ich nur ein zehn Jahre altes Kind war. Die ganze Nacht marschierten die Braunnemden der SA und die SS in den schwarzen Uniformen in Fackelzügen durch die Stadt, begeistert über ihren Sieg, und sie feierten stürmisch. Ihre kriegerischen Lieder hörte man in allen Stadtteilen. Ein Lied kann ich noch heute hören: „Und wenn das Judenblut am Messer spritzt, dann geht's noch mal so gut. Kameraden, Soldaten, hängt die Juden, stellt die Bonzen an die Wand". Und die Männer, Frauen und Kinder die auf den Bürgersteigen standen, zeigten ihre Begeisterung mit "Sieg Heil, Sieg Heil"-Geschrei. SA-Braunhemden gingen mit Sammelbüchsen durch die Straßen und schrien: "Gebt für die Einbahnstraße der Juden nach Palästina". Diese Ereignisse machten einen tiefen Eindruck auf einen zehn Jahre alten jüdischen Jungen.

Ja, die neue Ordnung hatte begonnen. In kurzer Zeit war nur noch eine Partei, die NSDAP, erlaubt. Alle Opposition war grausam unterdrückt. Als im nächsten Jahr, 1934, Hindenburg starb, wurde die NSDAP allbeherrschend. Neue Gesetze machten es für jüdische Menschen unmöglich, ihren Beruf auszuüben. Jüdische Geschäfte wurden boykottiert, beschädigt und oft zerstört, die Eigentümer verprügelt, nur weil sie Juden waren. Ich kann noch heute das Gesicht von meinem geliebten Lehrer in der vierten Klasse sehen. Sein Name war Leon Nussbaum. Sein Vater hatte ein Schuhgeschäft auf der Vereinsstraße, an der Ecke zur Arminstraße. Die Nazistrolche kamen dorthin und warfen alles durcheinander, und als Leon seinen Vater beschützen wollte, verprügelten sie ihn.

Am nächsten Tage kam Leon zur Schule, übersät mit Wunden und Blutergüssen. Eine andere, sehr persönliche Erfahrung bleibt mir auch im Sinn. Ich hatte einen guten Freund, der im nächsten Haus wohnte, Ringstraße 65, Fritz Rühl. Seine Familie war streng katholisch, wie die meisten Familien in unserer Nachbarschaft. Wir spielten immer zusammen und hatten viel Spaß miteinander. Eines Tages, ich glaube, es war etwa zwei Jahre nach der Machtübernahme der Nazis, kam er heimlich zu mir und sagte traurig: "Ernst, es tut mir sehr leid, was ich Dir sagen muss. Aber ich muss jetzt in die Hitlerjugend eintreten und es ist mir verboten mit Dir zu reden oder irgendetwas mit dir zu tun haben." Das gab mir einen Stich im Herzen. Was hatten wir Juden getan, dass wir so behandelt wurden?

Mein Großvater war ein Offizier in der Garde im Krieg mit Frankreich 1870/71, und im Krieg mit Österreich 1866 war er der Einzige in seiner Kompanie in der blutigen Schlacht von Königsgrätz, der die Schlacht überlebte. Da er ein gläubiger Jude war, betrachtete er diesen Jahrestag als einen Gedenktag für sein ganzes Leben und fastete an diesem Tag aus Dankbarkeit zu Gott. Mein Vater, seine drei Brüder und fünf andere Onkel kämpften im Ersten Weltkrieg. Ein Onkel ist an der russischen Front gefallen, und ein anderer Onkel fiel in der Skagerrak-Schlacht. Wir waren gute Bürger, wir leisteten unseren Beitrag für das Land und litten mit allen anderen Menschen, wenn die Zeiten nicht so gut waren.

Aber das war alles vergessen. Da waren vielleicht einige, die nicht mit der neuen Ordnung einverstanden waren, aber sie mussten ruhig sein, zu ihrer eigenen Sicherheit. Die meisten Deutschen aber waren sehr zufrieden mit der neuen Regierung. War nicht Deutschland wieder so stark, dass alle Länder davor zitterten? Jeder hatte Arbeit, die Industrie lief unter Volldampf, obwohl es jetzt eine Kriegsindustrie war. Das Heer war wieder aufgerüstet, und die Luftwaffe und das Panzerkorps hatten sich nach der Prüfung im Spanischen Bürgerkrieg als einsatzbereit erwiesen.

Da ist noch eine andere persönliche Erfahrung, die ich mitteilen möchte: 1937 wurde ich aus der Volksschule entlassen und bekam eine Lehrstelle in Wattenscheid. Als Lehrling musste ich einmal in der Woche zur Handelsschule gehen. Ich wurde immer ein wenig früher als die anderen aus der Schule entlassen, weil die anderen Schüler eine "Sonderklasse" hatten. Einmal vergaß der Lehrer, mich früher wegzuschicken und fing die "Sonderklasse" an, während ich noch in der Klasse war: "Die Juden sind eine Seuche. Sie kontrollieren die Ökonomie in der ganzen Welt. Sie haben Kontrolle über die Banken, die Börsen and alle großen Geschäfte." Auf einmal sah der Lehrer, dass ich noch im Zimmer war, wurde rot im Gesicht, und schrie: "Alexander, warum bist Du noch hier? Du bist entschuldigt! Geh fort!" Ich lief heraus und kämpfte mit meinen Tränen.

Und so schritten die Ereignisse voran. 1935 kam der Einmarsch ins Rheinland, im März 1938 der Anschluss Österreichs, im September 1938 die Besetzung des Sudentenlandes und der Tschechoslowakei und dann, am 1. September 1939 der Angriff auf Polen und der Anfang des Zweiten Weltkrieg. Ich hatte das Glück, im Januar 1938 durch die jüdische Kinderhilfe nach Amerika auswandern zu können. Aber meine ganze Familie musste zurückbleiben. Wir hofften, natürlich, dass wir eventuell wieder zusammenkommen würden in Amerika, wenn ich mich dort erstmal niedergelassen hätte. Aber das war nur ein Traum. Das Schicksal hatte andere Pläne.

Die Wirklichkeit schickte meinen Vater, meine Schwester und ihre zwei kleinen Kinder nach Auschwitz, wo sie umkamen. Meine Mutter wurde im Riga-Ghetto in einem Lastwagen vergast. Andere Verwandte wurden nach Auschwitz, Riga und Theresienstadt in den Tod geschickt. Nur ein Vetter überlebte den Holocaust und kam zurück nach Gelsenkirchen. Als die USA im Dezember 1941 in den Krieg eintraten, verlor ich alle Verbindungen zu meiner Familie. Das letzte Schreiben von meiner Mutter war eine Postkarte, die mich informierte, dass sie auf einen Umsiedlungstransport zum Osten war. Das letzte Wort von meiner Mutter.

Ich diente vier Jahre im amerikanischen Heer, war in Italien mit der 5. Armee, im Nachrichtendienst als Offizier. Nach dem Krieg war ich mit der Besatzung in Österreich, wo es mir möglich war, auf Urlaub nach Gelsenkirchen zu kommen. Was für eine veränderte Stadt ich fand! Die englischen und amerikanischen Bomber hatten vieles gründlich zerstört. Die schöne Bahnhofstraße mit den wunderbaren Geschäftshäusern war zerschmettert. Unglaublicherweise war mein Geburtshaus auf der Ringstraße noch ganz, obwohl die Gegend ringsum sehr beschädigt war. Ich fand auch einige Überlebende aus den KZ-Lagern, die mir die traurige Nachrichten von meiner Familie überbrachten."

Quellen:
Gedenkbuch BA
Listenmaterial der Jüdischen Kultusgemeinde v. 4.6.1946, betr. Deportation v. 27.1.1942. StA Gelsenkirchen/ISG
Einwohnerkartei, StA Gelsenkirchen, ISG
joods.nl (Abruf März 2013)
JewishGen.org (Abruf März 2013)
ushmm.org (Abruf März 2013)
Bericht Ernest Alexander in: Stefan Goch, "Jüdisches Leben, Verfolgung-Mord-Überleben", S.150-152, Essen 2004.

Stolpersteine für Frieda, Dorothea Julia, Margot und Ernst Alexander, verlegt am 14. August 2015

Stolpersteine Gelsenkirchen - Familie Frieda Alexander Stolpersteine Gelsenkirchen - Familie Frieda Alexander Stolpersteine Gelsenkirchen - Familie Frieda Alexander

Stolpersteine Gelsenkirchen - Familie Frieda Alexander


Andreas Jordan, c/o Projektgruppe STOLPERSTEINE Gelsenkirchen. März 2013, Nachtrag Video Januar 2016.
Nachtrag Dez. 2016: Stichting Stolpersteine Sittard-Gelen (NL) verlegt in 2017 Stolpersteine für den
Ehemann u. die Kinder von Dorothea Julia Sassen

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