STOLPERSTEINE GELSENKIRCHEN
Ausgrenzung erinnern
HIER WOHNTE
ADOLF HIRSCH
JG. 1869
DEPORTIERT 1942
THERESIENSTADT
ERMORDET 23.9.1942
TREBLINKA
|
HIER WOHNTE
JOHANNA HIRSCH
Geb. Rubens
JG. 1861
DEPORTIERT 1942
THERESIENSTADT
ERMORDET 23.9.1942
TREBLINKA
|
Verlegeort: Von-der-Recke-Straße 9, Gelsenkirchen
Abb.1: Adolf Hirsch und seine Ehefrau Johanna, geborene Rubens um 1940/41. Dieses Foto schickten die Großeltern als Geburtstagsgeschenk an ihre mit einem der Kindertransporte gerette Enkelin Ingrid Gunther.
Der Kaufmann Adolf Hirsch wurde am 4. Juni 1869 in Lautenburg geboren. Er war mit der am 8. November 1861 in Gelsenkirchen geborenen Johanna Rubens verheiratet. Das Ehepaar hatte ein Kind, den am 31. Oktober 1899 in Gelsenkirchen geborenen Sohn Ludwig.
Bereits vor dem ersten Weltkrieg war die Firma von Adolf Hirsch in Gelsenkirchen an der Von-Der-Recke-Straße 4 ansässig. 1920 kaufte Adolf Hirsch das einige Jahre zuvor erbaute Haus an der Von-Der-Recke-Straße 9. Familie Hirsch wohnte im Erdgeschoß und betrieb dann im hinteren Teil des Hauses die "Adolf Hirsch Wachstuche Großhandlung Gmbh".
Ingrid Gunther, eine der Töchter von Ludwig Hirsch erinnert sich, dass dort 5-10 Angestellte tätig waren. Auch ihr Vater, der bereits 1921 nach Recklinghausen-Süd verzogen war, arbeitete zumindest zeitweilig weiterhin mit in der Firma ihres Großvaters in der Gelsenkirchener Altstadt. Noch Mitte der 1930er Jahre betrieb Ludwig Hirsch in Recklinghausen an der Bochumer Straße 72 eine kleine Versicherungsagentur (Albingia), zeitgleich war er 1934 Vorsteher der dortigen Synagogengemeinde. Die Versicherungsagentur und das unter gleicher Anschrift betriebene Textilgeschäft Heimberg wurden in der Pgromnacht im November 1938 zerstört bzw. geplündert.
Abb. 2: Ludwig Hirsch mit Ehefrau Berta, geborene Heimberg
Abb. 3: Eintrag der Firma Adolf Hirsch im Adressbuch Gelsenkirchen, Ausgabe 1914/15
Über die weitere wirtschaftliche Entwicklung der Firma von Adolf Hirsch nach der Machtübergabe an die Nazis im Januar 1933 und wie die Enteignung des Besitzes des Ehepaares Hirsch ablief, ist bisher nicht bekannt. Es ist sicher davon auszugehen, dass auch Adolf Hirsch und seine Frau von den durch das NS-Regime gegen jüdische Deutsche gerichtete Diskriminierungen, Zwangsmaßnahmen und Enteignungen betroffen war. Ludwig Hirsch konnte mit seiner Frau Bertha, geb. Heimberg (geb. 18. Oktober 1900 in Recklinghausen) und Tochter Ruth (geb. 3. Mai 1924, später verheiratete Haas) im August 1939 aus Nazi-Deutschland zunächst nach England fliehen, Tochter Ingrid (geb. 15.Dezember 1928 später verheiratete Gunther) konnte mit einem der Kindertransporte bereits einige Monate zuvor nach England gerettet werden.
Abb. 4: Familien Hirsch und Heimberg 1935, dass Foto soll anlässlich einer Verlobungsfeier einer Tante von Ingrid Gunther entstanden sein. Dank Dr. Franz-Josef Wittstamm wurden indentifiziert: Vor Kopf Herta Heimberg verheiratete Hirsch, rechts daneben ihr Ehemann Ludwig Hirsch, darüber links mit Blumenstrauß Ingrid Hirsch und rechts Cousine Helga Heimberg. Rechts neben Ludwig sitzend seine Mutter Johanna Hirsch geb. Rubens, daneben rechts Else Heimberg neben Ehemann Leopold (Cousin aus Madfeld/Brilon) mit Sohn Rolf auf dem Schoß.
Aus der Einwohnermeldekartei der Stadt Gelsenkirchen ist ersichtlich, dass das Ehepaar Hirsch schließlich am 18. März 1942 aus ihrem Haus an der Von-Der-Recke-Straße 9 in eines der so genannten "Judenhäuser" Gelsenkirchens an der Klosterstraße 21 ziehen musste. Am 31. Juli 1942 wurde das Ehepaar Hirsch zusammen mit anderen Gelsenkirchener Juden in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Adolf und Johanna Hirsch wurden von Theresienstadt weiter in das Vernichtungslager Treblinka verschleppt und dort am 23. September 1942 - dem Tag ihrer Ankunft- in der Gaskammer ermordet.
|
|
|
Abb. 5 u. 6: Adolf Hirsch vor seinem Haus Von-Der-Recke-Straße 9, auf dem rechten Foto der Eingangsbereich des Hauses im Juli 2013.
Abb. 7: Genau dort, wo Adolf Hirsch auf dem alten Foto stand, verlegte Bildhauer Gunter Demnig 2013 die Stolpersteine.
Abb. 8: Die Von-Der-Recke-Straße um 1915
Nach dem 2. Weltkrieg erhielt Ludwig Hirsch als Erbe seiner Eltern vor dem Hintergrund der so genannten "Wiedergutmachung" das Haus Nr. 9 zurück und verkaufte es. Ab 1957 nutzte die Jüdische Gemeinde Gelsenkirchen das Gebäude und unterhielt dort bis 2007 einen Betsaal und ein Gemeindezentrum. Heute befindet sich in dem Gebäude Nr. 9 u.a. die "Begegnungsstätte Alter Betsaal".
Quellen:
ITS Archiv, Arolsen:
Doc. No. 5174729#1 (1.1.47.1/0001-0181/0149/0046), Listenmaterial verschiedene Lager
Doc. No. 12852533#1 (1.2.5.1/REES-ZWEIBRÜCKEN/SK GELSENKIRCHEN/0082), Gemeindelisten über jüdische Residenten / SK Gelsenkirchen
Doc. No. 5046922#1 (1.1.42.2/THERES40/1905) u. No. 5046474#1 (1.1.42.2/THERES40/1456) Kartei Theresienstadt
Adressbuch Gelsenkirchen, 1934
Wahlliste vom 16. November 1930 zur Gründung der liberalen jüdischen Synagogengemeinde, StA GE 0 XXII 10 1
Gedenkbuch BA
Listenmaterial der Jüd. Kultusgemeinde betr. Deportationen in: Andrea Niewerth, Gelsenkirchener Juden im NS, 2002
Einwohnermeldekartei, StA GE/ISG
Einwohnermeldekartei, StA Recklinghausen
www.holocaust.cz (Abruf Juli 2013)
Abb.1, 4, 5 : Privatbesitz der Familie, mit freundlicher Genehmigung von Ingrid Gunther
Abb.2: Von der Wiege bis zur Bahre. Menschen der Recklinghäuser Südstadt in den 1930er Jahren, bearbeitet v. Klaus Weberskirch und Matthias Kordes, Recklinghausen 2011
Abb.3: Adressbuch Gelsenkirchen, Ausgabe 1914/15. Dank an Volker Bruckmann
Abb.6: Gelsenzentrum e.V.
Abb.7: Repro Gelsenzentrum e.V.
Abb.8: Sammlung Karlheinz Weichelt, mit freundlicher Genehmigung
Biografische Zusammenstellung: Andreas Jordan, Projektgruppe STOLPERSTEINE Gelsenkirchen, September 2013. Editiert März 2020
|
Stolpersteine für Adolf und Johanna Hirsch, verlegt am 17. Dezember 2013
Die Patenschaften für die Stolpersteine, die in das Gehwegpflaster eingelassen an Adolf und Johanna Hirsch erinnern, haben die Enkeltöchter Ingrid Gunther und Ruth Haas übernommen.
Rede von Ingrid Gunther anlässlich der Stolpersteinverlegung für ihre Großeltern Adolf und Johanna Hirsch in Gelsenkirchen, Von-Der-Recke-Straße 9 am 17. Dezember 2013:
"Ich bin sehr dankbar, dass ich hier bin und dafür muss ich mich bei meinen Töchtern bedanken: Claudia dafür, dass sie von Los Angeles nach Washington D.C. geflogen ist, um bei meinem Mann zu sein und Nina und meiner Enkelin Dafna dafür, dass sie von Tel Aviv gekommen sind, um heute mit mir hier zu sein. Ohne ihre Hilfe hätte ich die Reise nicht machen können.
Es ist ein seltsames Gefühl, vor dem Haus meiner Großeltern zu stehen und an Ereignisse zu denken, die vor 80 Jahren stattgefunden haben. Es ist erstaunlich, wie klar die Erinnerungen sind. Wir wohnten in Recklinghausen und ich hatte immer angenommen, dass Recklinghausen ziemlich weit weg war, weil wir die Straßenbahn und einen Zug nehmen mussten, um nach Gelsenkirchen zu fahren. Wir sind oft nach Gelsenkirchen gekommen und zwei Mal habe ich mehrere Wochen hier verbracht. Ich bin sogar einige Wochen hier zur Schule gegangen.
Meine Großeltern hatten eine kleine Fabrik mit ungefähr zehn Mitarbeitern. Sie machten Kopfkissen, Deckbetten und Teehauben, etwas, was es heute nicht mehr gibt aber damals häufig benutzt wurde. Sie waren sehr orthodox und eine meiner schönsten Erinnerungen ist das Sabbathalten. Kerzen wurden angezündet und danach herrschte eine magische Ruhe. Ich muss zugeben, dass mein Großvater nicht ganz so religiös war wie meine Großmutter. Gegen Ende des Sabbbaths wurde mein Großvater immer ungeduldiger, weil er die Post öffnen und Radio hören wollte und wieder mit der Welt in Verbindung sein.
Meine Großeltern waren sehr beliebt, nicht nur in der jüdischen Gemeinde, sondern auch bei allen Nachbarn. Der beste Beweis dafür ist die Tatsache, dass vor dem Wahnsinn der Pogromnacht, jemand sie anrief und sagte, dass sie sich auf dem Dachboden verstecken sollten, und obwohl ihre Wohnung aufgebrochen wurde, ist nichts zerstört worden. Meine Großmutter hatte am 8. November Geburtstag und wir waren alle gekommen, um den Geburtstag zu feiern. Meine Schwester Ruth blieb da, aber alle anderen gingen nach Hause. Sie weiß noch ganz genau, dass nichts angerührt wurde und in ihren Worten, „nichts wurde angerührt, nicht einmal das Geschenkpapier“. Sie erinnert sich auch daran, dass sie mit meinem Großvater einen Spaziergang im Stadtpark gemacht hat und sie und mein Großvater haben auf einer Parkbank gesessen, was für Juden verboten war. Mein Großvater hat ihr gesagt: „Erzähl es deiner Oma nicht.“
Dieses Mahnmal ist auch für meinen Vater, der in diesem Haus groß geworden ist. Damals stand im Garten ein Baum, den er als Kind gepflanzt hatte. Nachdem er geheiratet hat, arbeitete mein Vater weiter bei seinen Eltern. Mein Vater hat nie erfahren, wann und wie genau seine Eltern gestorben sind und deshalb konnte er nie eine Jahrzeitkerze für sie anzünden. Meine Großeltern hatten einen sehr großen Einfluss auf mein Leben und ich hege die Erinnerung an sie.
Ich möchte mich bei Andreas Jordan für seine große Hilfe in der Vorbereitung der Stolpersteinverlegung bedanken. Ich habe das Gefühl, dass er zu einem Freund geworden ist. Ich bin Gunter Demnig sehr dankbar: die Stolpersteine sind seine wunderbare Idee und er sorgt dafür, dass sie verlegt werden. Ich bedanke mich bei allen Teilnehmern. Sie alle haben den heutigen Tag zu einem unvergesslichen Ereignis gemacht."
→ Rede Ingrid Gunther (PDF)
|
Rede von Nina Hassin anlässlich der Stolpersteinverlegung für ihre Urgroßeltern Adolf und Johanna Hirsch in Gelsenkirchen, Von-Der-Recke-Straße 9 am 17. Dezember 2013:
"Wir stehen hier, meine Mutter Ingrid Gunther, die in Essen geboren wurde und in Recklinghausen groß wurde. Als sie zehn Jahre alt war, fuhr sie mit einem Kindertransport nach England. Nach dem Krieg zog sie zusammen mit ihren Eltern und ihrer Schwester in die USA. Ich, Nina Hassin, wurde in den USA geboren.
Zusammen mit meinen Eltern und meiner Schwester bin ich nach Israel umgezogen. Und meine Tochter, Dafna Hassin, in Israel geboren, wo sie auch wohnt. Drei Generationen, die hier in Gedenken an meine Urgroßeltern Johanna und Adolf Abraham Hirsch stehen.
An dieser Feier nehmen wir stellvertretend für unsere ganze Familie teil. Meine Schwester Claudia Buchinsky und ihre Kinder Adie und Sivan Buchinsky, mein Sohn Yoel Hassin, die ältere Schwester meiner Mutter, Ruth Haas, ihre Kinder, Debbie Seaward und Bob Haas und ihre Enkel David und Rachel Seaward sind Teil dieser Feier und teilen dieses Erlebnis mit uns.
In den letzten paar Tagen habe ich viele Geschichten über die Vergangenheit meiner Mutter gehört. Zum ersten Mal hörte ich die liebevollen Erinnerungen meiner Mutter an ihre Großeltern. Auf dem Weg hierher, erwähnte sie, dass der Baum im Park gegenüber vielleicht noch da ist. Früher versteckte sie sich hinter dem Baum und ihr Opa war immer überrascht, als er sie „fand“.
Wenn ich an das Stolperstein-Projekt denke, fallen mir zwei Worte ein: „Mut“ und „Menschlichkeit“. Man muss an die schrecklichen Ereignisse der Vergangenheit erinnern aber es erfordert einigen Mut, um eine Aktion zu initiieren, die an die Schicksale von Menschen in so vielen Städten erinnert. Diese Erinnerungen sind Teil des täglichen Lebens geworden. Dieses Projekt ist auch ein Ausdruck der Menschlichkeit, die sich aus der dunklen Vergangenheit entwickelt hat und diese Gruppe Menschen, Menschen, die wir nicht kennen, die ihre tägliche Routine unterbrochen haben, um an einen Bürger ihrer Stadt zu denken, der zufällig Teil unserer Familie ist, ist dafür ein Beispiel.
Mit zehn Jahren hat meine Mutter ihr Zuhause und ihre Familie verlassen. Seitdem hat sie nie das Gefühl des „Dazugehörens“ gehabt. Weder in England noch in den USA, wo sie den größten Teil ihres Lebens verbracht hat, noch in Israel, weil sie dort nur kurz wohnte. Sie hat nur selten von ihrer Kindheit in Deutschland gesprochen. Das lag daran, dass ihre frühe, fröhliche Kindheit begraben wurde.
Aber durch die Stolpersteine vor dem Haus ihrer Großeltern und durch diese Feier, haben wir das Gefühl, dass es berechtigt ist, an die Zeit zu erinnern, als unsere Familie Bürger dieser Stadt waren. Und Leute, die hier vorbeilaufen, werden daran erinnert, dass es hier eine Familie gab, die Teil dieser Bevölkerung war.
Die große Auswirkung des Stoperstein-Projekts auf meine Familie hat mich erstaunt. Im Namen unserer ganzen Familie, bedanken wir uns, dass sie es uns ermöglichen heute dabei zu sein. Wir bewundern ihr lobenswertes Projekt."
→ Rede Nina Hassin (PDF)
|
Projektgruppe STOLPERSTEINE Gelsenkirchen. Nachtrag Stolpersteinverlegung Dezember 2013
|
↑ Seitenanfang
|
|