STOLPERSTEINE GELSENKIRCHEN

Die Dabeigewesenen - Gelsenkirchen 1933–1945


Stolpersteine Gelsenkirchen

← Die Dabeigewesenen - S_V


Von NS-Täter/innen, Profiteuren, Denunziant/innen, Schweigenden und Zuschauer/innen

Stadtverwaltung Gelsenkirchen 1933 - 1945

Oberbürgermeister Böhmer, Hans-Sachs-Haus
Bürgermeister und Stadtkämmerer Dr. Schumacher, Hans-Sachs-Haus
Stadtrat Schossier, Rathaus Buer
Sadtrat, Stadtmedizinalrat Dr. Wendenburg, Hans-Sachs-Haus
Stadtbaurat Fuchslocher, Rathaus Buer
Stadtrechtsrat Dr. Schäfer, Hans-Sachs-Haus
Stadtrat Schulte, Hans-Sachs-Haus
Stadtdirektor Holz, Hans-Sachs-Haus

Städtische Dienststellen

Haupt- und Personalamt, Hans-Sachs-Haus, Leiter: Stadtverwaltungsrat Barney
Rechnungsprüfungsamt, Hans-Sachs-Haus, Leiter: Stadtverwaltungsrat Schmidtmann
Stadtpolizeiamt, Hans-Sachs-Haus, Leiter: Stadtoberinspektor Schenk
        Verw.-Stelle Gelsenkirchen-Buer: Rathaus Buer
        Verw.-Stelle Gelsenkirchen-Horst: Verwaltungsgebäude Horst
Rechtsamt, Hans-Sachs-Haus, Leiter: Städt. Rechtsrat Schulte-Terboven (Stadtamtmann Bauermann)
Verkehrsamt, Hans-Sachs-Haus, Leiter: Stadtamtmann Elsner
Städt. Informationsdienst, Hans-Sachs-Haus, Leiter: Pressereferent Dinger
Statistisches und Wahlamt, Hans-Sachs-Haus, Leiter: Dr. Große-Boymann
Standesamt Gelsenkirchen, Hans-Sachs-Haus, Standesbeamter: Stadtamtmann Ernst
Standesamt Gelsenkirchen-Buer, Gelsenk.-Buer, Hochstr 68, Standesbeamter: Stadtamtmann Köker
Standesamt Gelsenkirchen-Horst, Gelsenk.-Horst, Standesbeamter: Stadtoberinspektor Mantia
Stadtkämmerei, Hans-Sachs-Haus, Leiter: Finanzdirektor Wolff
Stadthaupt- u. Steuerkasse, Gelsenkirchen, Stürmerstraße, Leiter: Stadtkassendirektor Schälicke
        Zahlstelle Gelsenkirchen-Buer, Rathaus Buer
        Zahlstelle Gelsenkirchen-Horst, Verw.-Gebäude Gelsk.-Horst
Stadtsteueramt, Gelsenkirchen, Hans-Sachs-Haus, Leiter: Stadtverwaltungsrat Nachbarschulte
        Verw.-Stelle Gelsenkirchen-Buer, Rathaus Buer
        Verw.-Stelle Gelsenkirchen-Horst, Verw.-Gebäude Gelsk.-Horst
Fürsorgeamt, Dickampstr.2, Wildenbruchstr. 11/13, Ahstr. 17
Leiter: Stadtamtmann Capelle
        Verw.-Stelle Gelsenkirchen-Buer, Rathaus Buer
        Verw.-Stelle Gelsenkirchen-Horst, Verw.-Gebäude Gelsk.-Horst
Stadtjugendamt und Amt für Volksertüchtigung, Hans-Sachs-Haus
Leiter: Stadtverwaltungsrat Schmidtkamp
        Verw.-Stelle Gelsenkirchen-Buer, Rathaus Buer
        Verw.-Stelle Gelsenkirchen-Horst, Verw.-Gebäude Gelsk.-Horst
Gesundheitsamt, Kaiserstr.4
Leiter: Amtsarzt Obermedizinalrat Dr. Huebner (Stadtoberinspektor Ries)
        Verw.-Stelle Gelsenkirchen-Buer, Rathaus Buer u. Westerholter Str. 18
        Verw.-Stelle Gelsenkirchen-Horst, Verw.-Gebäude Gelsk.-Horst
Versicherungsamt, Hans-Sachs-Haus
Leiter: Direktor des Vericherungsamtes Honsalek
        Verw.-Stelle Gelsenkirchen-Buer, Rathaus Buer
        Verw.-Stelle Gelsenkirchen-Horst, Verw.-Gebäude Gelsk.-Horst
Nahrungsmittel-Untersuchungsamt Gelsenkirchen, Vohwinkelstr.24
Leiter: z.Zt. unbesetzt
Schulamt, Rathaus Buer
        Verw.-Stelle Gelsenkirchen, Neumarkt 1
        Leiter: Stadtamtmann Bechtel
        Städt. Schulrat Winkel, Gelsenkirchen, Neumarkt 1
        Städt. Schulrat Theegarten, Gelsenkirchen, Neumarkt 1
        Kreisschulrat Ellermann, Rathaus Buer
Stadtamt für Theater und Konzerte, Gelsenkirchen, von-Richthofen-Str.
Leiter: Stadtoberinspektor Zöller
Theater und Konzertkasse, Neumarkt 1
Stadtbücherei, Kunstausstellungen, Gelsenkirchen, Neumarkt 2
Bücherei-Nebenstelle, Gelsk.-Buer, Goldberghaus
Schiffer, Leiter der Stadtbücherei
Stadtarchiv, Museen, Gelsnkirchen, Nuemarkt 2
Leiter: Dr. Große-Boymann
Bauverwaltungsamt, Rathaus Buer
        Verw.-Stelle Gelsenkirchen, Hans-Sachs-Haus
Leiter: Stadtassessor Hammann
Stadtamt für Wohnungsbauförderung und Kleinsiedlung, Rathaus Buer
Leiter: Haneklaus
Baupolizeiamt und Wohnungsaufsicht, Rathaus Buer
        Verw.-Stelle Gelsenkirchen, Hans-Sachs-Haus
Leiter: Städt. Baurat Lorenz
Hochbauamt, Hans-Sachs-Haus
        Verw.-Stelle Gelsenkirchen-Buer, Rathaus Buer
Leiter: Städt. Baurat Treutle
Straßenbauamt, Rathaus Buer
        Verw.-Stelle Gelsenkirchen, Hans-Sachs-Haus
Leiter: Städt. Baurat Jäger
Kanalbauamt, Hans-Sachs-Haus
        Verw.-Stelle Gelsenkirchen-Buer, Rathaus Buer
Leiter: Städt. Baurat Bonn
Stadtplanungsamt, Rathaus Buer
Leiter: Städt. Baurat Wönkhaus
Vermessungsamt, Hans-Sachs-Haus
        Verw.-Stelle Gelsenkirchen-Buer, Rathaus Buer
Grundstücksamt, Hans-Sachs-Haus
        Verw.-Stelle Gelsenkirchen-Buer, Rathaus Buer
Liegenschaftsdirektor Sauer
Stadtamt für Grünanlagen für Gelsenkirchen, von-Richthofen-Straße
Stadtgartenoberinspektor Pietschker
für Gelsenk.-Buer, Rathaus Buer, Gartenbauinspektor Falke
Stadtamt für städt. Betriebe, Hans-Sachs-Haus
Leiter: Referent Dr. Schmidt (Stadtoberinspektor Stammen)
Städt. GWE.-Werke, Gelsenkirchen, Franz-Seldte-Straße 7
Leiter: Direktor der GWE.-Werke Adam
        Gelsenkirchen-Buer, Horster Straße 119
        Gelsenkirchen-Horst, Schloßstraße 8
Städt. Schlacht- und Viehhof, Gelsenkirchen, Feldstraße 1
Leiter: Schlachthofdirektor Dr. Glieckenberg
Städt. Fuhrpark (Straßenreinigung und Müllabfuhr)
Leiter: techn. Stadtoberinspektor Paul
        Gelsenkirchen, Junkerweg 53
        Gelsenkirchen-Buer, Immermannstarße 1
        Gelsenkirchen-Horst, Schumacherstraße 21a
Feuerschutzpolizei, Gelsenkirchen, Wiese 2
Freiwillige Feuerwache, Gelsenk.-Buer, Am Spritzenhaus
Krankentransport- und Unfallwesen, Gelsenkirchen, Wiese
Leiter: Branddirektor Scholten
Rettungs- und Unfallwache Gelsenkirchen-Buer
Gelsenkirchen-Buer, Immermannstraße 1
Leiter: Betriebsleiter Tente
Stadtleihamt, Gelsenkirchen, Oststraße 1
Gelsenkirchen-Buer, Hagenstraße 34
Leiter: Stadtoberinspektor Tappert
Badeanstalten
Stadtbad Gelsenkirchen, Hindenburgstraße 17
Freibad Grimberg
Leiter: Badeinspektor Schröder

Quelle: Adressbuch Stadt Gelsenkirchen, Ausgabe 1939

Eine exemplarische Betrachtung: Stadtverwaltung Gelsenkirchen 1933 - 1945

Hans-Sachs-Haus in Gelsenkirchen. Zwischen 1933-1945 Unrechtsort und Sitz der Stadtverwaltung

Abb.: Hans-Sachs-Haus in Gelsenkirchen. Zwischen 1933-1945 Unrechtsort und Sitz der Stadtverwaltung. Foto:ISG, Fotosammlung, Bild-Nr. 409

Die Rolle der Kommunen bei der NS-Verfolgungspolitik werden noch immer unterschätzt. Dabei führten die Rathäuser nicht nur Weisungen aus, sondern gingen immer wieder über zentrale Vorgaben hinaus. Städte und Gemeinden spielten im "Dritten Reich" eine wichtige Rolle, hatten sie doch als untere Verwaltungsbehörden die NS-Politik auf kommunaler Ebene umzusetzen. Die Kommunalverwaltungen standen in engem Kontakt mit der Bevölkerung und erfuhren deren Reaktionen - zustimmender wie ablehnender Art - unmittelbarer als jede andere Behörde. Aus Sicht des Regimes erfüllten sie eine wichtige Funktion: Für den Durchhaltewillen und die Moral der Bevölkerung ist zum Beispiel die Bedeutung des kommunalen Krisenmanagements nach Bombenangriffen kaum zu überschätzen. Aufgrund ihrer integrativen Funktion waren die Kommunen auch in die NS-Verfolgungspolitik involviert - sonst wäre diese nicht so "effektiv" durchzusetzen gewesen. Es gibt wohl kaum eine Verfolgungsmaßnahme, bei der kommunale Stellen nicht einbezogen oder wenigstens darüber unterrichtet gewesen wären. Umso erstaunlicher ist die Tatsache, dass die Mitwirkung der Kommunen an der NS-Verfolgungspolitik lange Zeit wenig beachtet wurde. Lokalgeschichtliche Abhandlungen beschränken sich häufig auf die "Gleichschaltung" der Rathäuser und brechen danach ab. Die NS-Verfolgungspolitik durch die Kommunen ist weithin noch immer nur unzureichend erforscht.

Die Städte und Gemeinden waren stärker in die NS-Verfolgungspolitik einbezogen als bislang angenommen. Sie entließen Mitarbeiter aus rassischen und politischen Gründen. Sie wirkten an der Judenverfolgung und an Deportationen mit, "arisierten" Kunstgegenstände, private Bibliotheken, Gold- und Silbergegenstände sowie Immobilien. Die kommunalen Gesundheitsämter sorgten für die massenhafte Sterilisierung von "Erbkranken" ebenso wie für die Ermordung von Menschen mit Behinderungen. Die Stadtverwaltungen vertrieben Sinti und Roma aus ihren Wohnungen und verfolgten sie. Die städtischen Bauämter beschäftigten in großer Zahl Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter. Besonders bemerkenswert ist, dass die kommunalen Beamten und Angestellten ihre Handlungsspielräume häufig nicht im Sinne der Opfer nutzten, sondern immer wieder über Direktiven "von oben" hinausgingen bzw. sogar Verfolgungsmaßnahmen aus eigenem Antrieb ersannen. Auf dem Gebiet der Verfolgungspolitik lassen sich keine nennenswerten Gegensätze zwischen den Kommunen und den örtlichen Parteistellen ausmachen, die sich ansonsten heftige Konflikte lieferten. Daher muss das Bild von einem Gegensatz zwischen der "alten Bürokratie" und der neuen NSDAP-Bürokratie, wie es in der älteren Literatur entwickelt wurde, in Frage gestellt werden.

Für die Lokalgeschichtsschreibung tut sich hier ein weites Forschungsfeld auf, wie sich am Beispiel der Edelmetallabgabe zeigen lässt, die Juden 1939 aufgezwungen worden war. Binnen zweier Wochen hatten sie alle Gegenstände aus Silber und anderen Wertmetallen in den städtischen Pfandleihhäusern abzuliefern. Der Ankauf war ein verkappter Raub, denn gezahlt wurden lediglich zwei Pfennig pro Gramm Silber. Diese zentrale, organisatorisch aufwändige Verfolgungsmaßnahme wurde nicht von der Partei oder der Gestapo, sondern von den Kommunen ausgeführt. In rund 60 kommunalen Pfandleihanstalten im Reich wurden so genannte öffentliche Ankaufstellen eingerichtet, in denen Verwaltungsmitarbeiter die abgegebenen Gegenstände registrierten, ihren Wert abschätzten, den Juden eine geringe Entschädigung dafür auszahlten, die Gegenstände einschmelzen ließen, versteigerten oder an eine zentrale Stelle nach Berlin weiterleiteten. Die Leihämter schickten insgesamt 135 Tonnen Silber und 1,3 Tonnen Gold an die Schmelzanstalten. Die Gesamteinnahmen der öffentlichen Ankaufstellen für Wertsachen von Juden werden mit reichsweit mit rund 54 Millionen RM beziffert.

Andere Verfolgungsfelder in der lokalgeschichtlichen Darstellung

Auch andere Verfolgungsfelder fehlen in vielen lokalgeschichtlichen Darstellungen, so auch in Gelsen- kirchen. Letztlich ließe sich über die erwähnten Beispiele hinaus anhand jedes beliebigen kommunalen Amtes die Mitwirkung der Städte an der NS-Verfolgungspolitik dokumentieren:

Die Personalämter entließen nach dem Berufsbeamtengesetz Mitarbeiter aus politischen und rassischen Gründen.
Die Sportämter beschlagnahmten die Sportanlagen von jüdischen Vereinen und der Arbeiterbewegung.
Die Gartenverwaltungen vertrieben Juden aus den öffentlichen Grünanlagen.
Die Statistischen Ämter ermittelten die Anzahl von Juden und "Mischlingen" im Stadtgebiet in Zusammenarbeit mit der Geheimen Staatspolizei.
Die Einwohnerämter führten Suchkarten des Gesundheitsamtes für Geschlechtskranke.
Die Wohlfahrtsämter lieferten Informationen in Sterilisations- sowie Ehegesetzgebungsverfahren und waren an der Verfolgung von "Asozialen" beteiligt.
Die Standesämter arbeiteten bei der Umsetzung der Ehegesetzgebung mit den Gesundheitsämtern Hand in Hand.
Die Stadtarchive lieferten Material zur "Sippenforschung".
Die Schulämter gaben Beurteilungen von Hilfsschülern zur Verwendung in Sterilisationsverfahren weiter und schlossen jüdische Kinder vom Unterricht aus.
Die Wohnungsämter vertrieben Juden, Sinti und Roma aus ihren Wohnungen und bereiteten Deportationen vor.
Die Fürsorgebehörden schlossen Juden von Sozialleistungen aus.
Die Oberbürgermeister genehmigten in vielen Kommunen die "Arisierungen" von Einzelhandelsgeschäften.
Die Grundstücksämter kauften Immobilien von jüdischen Eigentümern, die auswandern mussten oder deportiert wurden.
Die Kämmereien verbuchten das "arisierte" Vermögen in den städtischen Haushalten.
Die Bauämter organisierten die städtischen Kriegsgefangeneneinsätze.
Die Wirtschafts- und Ernährungsämter waren für die Lebensmittelrationierung für sämtliche Einwohner zuständig - inklusive der Juden sowie der Insassen in Gefängnissen, Gefangenen- und Konzentrationslagern. Kaum eine Behörde verfügte über einen solch umfassenden Überblick über das NS-Lagersystem.

Die Liste ließe sich fortsetzen. War es in Gelsenkirchen anders? Nein, davon ist nicht auszugehen. Exemplarisch sei hier der "Ankauf" eines Hauses an der Klosterstraße 21 durch die Stadt Gelsenkirchen erwähnt, das sich im Besitz des jüdischen Arztes und Unternehmers Friederich Moritz Levisohn befand. Levisohn, der sich ab 1946 Fritz Lening nannte, musste sich in einem Rückerstattungsverfahren nach dem Krieg sein Eigentum zurückholen.

Vorstehend sind beispielsweise die jeweiligen Leiter der einzelnen Ämter innerhalb der Stadtverwaltung namentlich aufgführt - Wer war wann in welche Entrechtungs- und Verfolgungsmaßnahmen involviert? Den Kommunen bleibt viel Arbeit, wenn sie ihre Mitwirkung an der NS-Verfolgungspolitik aufarbeiten wollen. Dabei darf sich der Blick nicht nur auf das antidemokratische und rassistische Verwaltungshandeln vor 1945 beschränken, dazu gehören auch erste Formen des Umgangs mit der eigenen Vergangenheit, etwa Fragen der Entnazifizierung, die Entschädigung Betroffener oder auch die Wiedereingliederung "belasteter" Beamter.

Drittes Reich in Gelsenkirchen

Sitzung der Gelsenkirchener Ratsherren im Saal des Hans-Sachs-Hauses während des "Dritten Reiches".. Foto: STDA GE (Foto Müller)


Auszüge aus: Wolf Gruner, Die NS-Judenverfolgung und die Kommunen

Die Bedeutung der lokalen Ebene ist dabei häufig unterschätzt worden; die Rede ist meist nur von einigen Ausschreitungen und Boykotten, welche die NS-Führung zu neuen Gesetzesmaßnahmen getrieben hätten. Die antijüdische Politik in den Städten und Gemeinden läßt sich aber keinesfalls auf Aktionen der Parteibasis reduzieren.

Wie bereits ein erster Blick in die unzähligen Lokalstudien ergibt, haben seit 1933 die Kommunen ganze Kataloge örtlicher Maßnahmen entwickelt, die - den Bestimmungen auf Reichsebene zum Teil Jahre vorauseilend - die Teilnahme jüdischer Einwohner am städtischen Leben ebenso einschränkten wie deren Gewerbe- und Berufsausübung. Gemeindeverwaltungen engagierten sich in der „Judenpolitik" über den vollen Zeitraum der NS-Diktatur, bis hin zur Verwertung des Vermögens der Deportierten.

Die akademische Forschung hat bis auf wenige Ausnahmen dieses Feld Bürgerinitiativen oder Archivaren überlassen, höchstens nutzte man deren Studien als Beispiele für ein lokales Vorpreschen, ohne diese Beobachtung vergleichend zu analysieren. Hier hätte sich gezeigt, wie intensiv die Städte untereinander in der Frage der Verfolgung miteinander kommunizierten. Teilweise wurden die städtischen Initiativen durch den Deutschen Gemeindetag sogar systematisch koordiniert. Als innenpolitischer Faktor in der NS-Zeit ist dieser kommunale Spitzenverband bisher unterschätzt worden. Das gilt auch für seine Rolle bei der Vorbereitung und beim Vollzug antijüdischer Maßnahmen. Schon deshalb läßt sich die NS-Verfolgungspolitik ohne Einbeziehung der lokalen Ebene nicht wirklich analysieren.

Die Politik der Kommunen und Gemeinden trug aber nicht nur zur Dynamisierung der Verfolgung während der dreißiger Jahre bei, ihre Maßnahmen waren unverzichtbar für die Konstruktion einer getrennten „jüdisch-arischen" Alltagswelt im NS-Staat. Zu den gemeindlichen Aufgaben zählten die Unterhaltung von Kindergärten, Spiel- und Sportplätzen, Schulen, Bädern, Krankenhäusern, Altersheimen, Friedhöfen, Wohnungen, Markthallen, Theatern, Büchereien, Museen sowie der Wohlfahrt. Karl Fiehler, Oberbürgermeister von München, brachte in einer Rede die Funktion der Städte „im neuen Deutschland" auf die Formel: „Die Gemeinde [...] betreut den Menschen von der Wiege bis zur Bahre." Und alle kommunalen Maßnahmen, so Fiehler 1937 in einer Rede, sollten stets der „Förderung und der Erhaltung der Art unseres deutschen Volkes" dienen.

Vor allem die Trennung der Juden von den Nichtjuden in städtischen Einrichtungen belastete die persönlichen Beziehungen im Alltag, lange vor den Nürnberger Gesetzen. Die Vielzahl lokaler Bestimmungen, darunter Berufs- und Gewerbebehinderungen, konterkariert die bisherige Auffassung, daß der Verfolgungsprozeß auf Reichsebene seit 1934 spürbar abgenommen hätte. Lokale Diskriminierungen waren seltener durch Partei oder SA, vielmehr durch Stadt- und Gemeindeverwaltungen initiiert, ein Moment in der antijüdischen Verfolgung, das bislang unterschätzt wurde. Auf kommunaler Ebene ist die Phase 1933/34 von einem informellen, von Reichsgesetzen ungedeckten System zunehmender Ausgrenzung bestimmt, das von zentraler staatlicher Seite allerdings toleriert oder gar gefördert wurde.

Im Juli 1935 startete eine zentrale Medienkampagne, bei der vor allem über „Provokationen" jüdischer Deutscher, über jüdische „Rasseschänder" und über Juden als Verbrecher berichtet wurde. Alle Beziehungen zwischen Nichtjuden und Juden, die sich bislang nicht hatten verbieten lassen, sollten dadurch stigmatisiert werden. Zu diesem Zweck band man kommunale Ausgrenzungsaktionen ebenfalls in diese Pressekampagne ein. Beginnend mit einer Meldung über Benutzungsbeschränkungen für Juden in Breslauer städtischen Bädern, wurden in rascher Folge Nachrichten aus anderen Orten lanciert. Die Reichsführung SS forderte weit schärfere Maßnahmen. Anfang August hieß es in deren Organ „Das Schwarze Korps", jeder „Volksgenosse" könne künftig einen Juden auch unter Anwendung von Gewalt festnehmen, wenn der sich „unter Mißbrauch seines Gastrechts mit einer deutschen Frau in der Öffentlichkeit sehen läßt" oder in einem „Tanzlokal anmaßend Gliederverrenkungen vornimmt" oder „sich in deutschen Bädern lärmend und auffällig benimmt". Da die NSDAP-Propagandaleitung diesen Artikel sofort im ganzen Reich verbreitete, mußten der Bevölkerung Juden fortan als vogelfrei erscheinen.

Die Kommunalverwaltungen hatten den lange begonnenen Prozeß der Separierung seit 1937 weiter intensiviert, wieder unter Mithilfe des Deutschen Gemeindetags. Dessen Vorsitzender, Karl Fiehler, hatte im Frühsommer in Königsberg eine explizit antijüdische Rede gehalten, die in dem Statement gipfelte: „Wenn da jemand erklärt [...], der Herrgott hat die Juden auch geschaffen, sie sind auch seine Kreatur, dann sage ich, [...] ich nehme das ohne weiteres an, wie ich ja auch annehme, daß das Ungeziefer als Kreatur Gottes besteht, die Wanzen, die Läuse und Flöhe. Das sind auch Kreaturen Gottes, aber der Herrgott hat nicht bestimmt, daß wir uns von diesem Ungeziefer fressen lassen sollen." Fiehler appellierte danach an die stürmisch applaudierenden Zuhörer, alle Maßnahmen in den Gemeinden künftig so zu treffen, „damit sie der Förderung und der Erhaltung der Art unseres deutschen Volkes dienen".

Ein Beispiel hierfür ist das oft angesprochene, jedoch kaum untersuchte Verbot, öffentliche Parkbänke zu benutzen. Nachdem die Stadt Berlin im August 1937 in einem Park Bänke mit der Aufschrift „Für Juden verboten" versehen hatte, wollte Leipzig diese Maßnahme kopieren. Bürgermeister Haake fragte beim Deutschen Gemeindetag an, „ob es auch hier möglich wäre, unbeanstandet von seiten des Reiches eine solche Maßnahme zu treffen". Etwas später bat Berlin selbst um Auskunft über die Rechtslage, weil man nun im ganzen Stadtgebiet so verfahren wollte. Unabhängig davon, daß der Deutsche Gemeindetag die Berliner Stadtverwaltung ermunterte, wie geplant vorzugehen, startete man am 1. November noch eine Umfrage: „Einige Städte beabsichtigen, zur Behebung von auftretenden Mißständen nur eine bestimmte Anzahl von Bänken in öffentlichen Park- und Platzanlagen den Juden zur Benutzung freizugeben. Gemeinden, bei denen ebenfalls Mißstände in dieser Richtung aufgetreten sind, werden um Mitteilung gebeten, ob und wie sie die Benutzung der Bänke in öffentlichen Park- und Platzanlagen geregelt haben." Parallel verhandelte der Gemeindetag mit dem Propagandaministerium über dieses Thema. Die Umfrage, auf die 14 Städte antworteten, ergab, daß in den meisten keine Regelungen als notwendig erachtet wurden, weil es entweder keine Beschwerden gab oder weil kaum noch jüdische Deutsche öffentliche Parks besuchten. Nur in Berlin und Glogau war die Benutzung von Bänken beschränkt, in Gera und Königsberg waren einzelne Anlagen gesperrt.

Während die Einsatzgruppen in der Sowjetunion Juden bereits zu Zehntausenden ermordeten, fand die Separierung der Verfolgten in Deutschland einen sichtbaren Abschluß durch die Einführung des „Judensterns" im September 1941. Zu diesem Zeitpunkt waren die meisten der noch ca. 160000 im „Altreich" lebenden jüdischen Deutschen in „Zwangswohngemeinschaften" konzentriert. Fast alle Arbeitsfähigen standen im Zwangseinsatz. Jüdische Deutsche unterlagen einem Sonderrecht, durften sich nicht mehr frei bewegen, waren von allen öffentlichen Einrichtungen ausgeschlossen, konnten Informationen nur noch durch die überwachte Reichsvereinigung oder das zensierte Nachrichtenblatt beziehen. Diese systematische Abschottung schuf seit Ende 1938 im Verein mit der durch sie verstärkten Entsolidarisierung der restlichen Bevölkerung auch die sozialen und organisatorischen Bedingungen für die Planung und Durchführung ihrer Deportation in den Osten und ihre dortige Vernichtung. Einen bisher unterschätzten Beitrag hierzu leisteten die deutschen Stadtverwaltungen und Gemeindevorstände.

Die Beteiligung unzähliger Menschen seit 1933 an der Ausgrenzungspraxis im städtischen Umfeld förderte zudem täglich die individuelle Gewöhnung an eine getrennte Welt von Juden und Nichtjuden, dem erklärten Ziel führender Nationalsozialisten, nicht nur Hitlers, Goebbels', Görings oder Heydrichs, sondern auch Fiehlers und offenbar manch anderen Bürgermeisters. Damit verwirklichte sich der Grundsatz der NSDAP: „Die Gemeinden sind das Bindeglied zwischen Volk und Staat" für die verfolgten Juden auf folgenschwere Weise.

Auszüge aus: Wolf Gruner, die NS-Judenverfolgung und die Kommunen, Zur wechselseitigen Dynamisierung von zentraler und lokaler Politik 1933-1941, S.75-126 in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Jahrgang 48 (2000) Heft 1. URL: http://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/2000_1.pdf (Letzter Abruf: September 2018)


Andreas Jordan, Projektgruppe STOLPERSTEINE Gelsenkirchen. August 2017.

↑ Seitenanfang