STOLPERSTEINE GELSENKIRCHEN
Die Dabeigewesenen - Gelsenkirchen 1933–1945

← Die Dabeigewesenen - S-V
Von NS-Täter/innen, Profiteuren, Denunziant/innen, Schweigenden und Zuschauer/innen
Otto Tuchel
Der selbstherrliche und sadistische Polizeihauptwachtmeister Otto Tuchel, Angehöriger des Kommandos der Schutzpolizei Riga und des Reserve-Polizeibataillons 22 hatte sich bei vielen Überlebenden ins Gedächtnis eingebrannt. Tuchel war u.a. an der Räumung des Ghettos Riga im November/Dezember 1941 und dem daran anschließenden Massenmord an lettischen Juden beteiligt. Er bereicherte sich skrupellos an seinen Opfern.
Im Vergleich zur Heimat wirkten die Gebäude und Straßen im mit Stacheldraht umgebenden Ghetto Riga heruntergekommen und verwahrlost. Die eisige Kälte hatte zudem die Wasserleitungen einfrieren lassen. Als wesentlich grauenvoller wurde jedoch die ungeahnte Willkür und hemmungslose Gewalt wahrgenommen. Dem damals 19-jährigen Ernst Steinweg aus Münster blieb ein Mord wenige Stunden nach Eintreffen im Ghetto in Erinnerung:
"Am 16.Dezember 1941 gegen 7 Uhr an dem Tage unserer Ankunft im Ghetto zu Riga erschien Tuchel in unserer Wohnung. Alle Männer, die etwas beleibt oder körperliche Gebrechen hatten, schlug er in ungehöriger gemeiner Weise auf den Leib. Unter den Geschlagenen befand sich auch mein Vater. Ein gewisser Paul Schönthal, der unserer Gruppe angehörte und besonders dick war, musste sich auf Befehl von Tuchel auf einen Nachttopf setzen. Ein[em] gewissen Behrend, Malermeister aus Bielefeld, gab er etwas zu trinken und musste derselbe dann mit ihm auf die Straße gehen. Kaum, dass sie das Zimmer verlassen hatten, hörten wir Schüsse und fanden wir dann auch Behrend tot vor der Türe liegen."

Abb.: Am dritten Prozesstag beschreibt Tuchel eine Szene von den Exekutionen in Rumbula. (Bund der Verfolgten des Naziregimes Berlin e.V., Artikel in "Die Mahnnnug" vom 1. Dezember 1972
Vier ehemalige deutsche Polizisten, Friedrich Jahnke (Hamburg), Otto Tuchel (Lensahn), Max Neumann (Hildesheim) und Emil Dietrich (Hauptmann der Schutzpolizei und Hauptsturmführer in der Leibstandarte SS Adolf Hitler), sie waren Angehörige des Kommandos der Schutzpolizei Riga und des Reserve-Polizeibataillons 22 standen ab 1972 wegen Gewaltverbrechen bei der Räumung des Ghettos vor dem Hamburger Landgericht.
Der Hauptangeklagte Tuchel etwa wurde 1948 wegen "Hetzjagden" auf Sowjetbürger bereits von einem sowjetischen Militärgericht zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt - jedoch 1955 vorzeitig entlassen. Danach kehrte er nach Deutschland und in den Polizeidienst zurück. Inzwischen ist er arbeitslos. Die später am Landgericht verlesene Anklageschrift zeichnet das Bild eines Judenhassers. Seinen Kameraden war er demnach "wegen seiner Grausamkeit gegenüber Juden" aufgefallen. Er habe sich sogar gerühmt, sie "abgeknipst" - also getötet - zu haben.
Während des Prozesses schildern Dutzende Zeugen - sowohl damalige jüdische Gefangene als auch deutsche Polizisten - weitere Gräuel, die sich zusätzlich zum Massaker im Ghetto abgespielt haben. Bei der Urteilsverkündung stellt der Vorsitzende Richter Jürgen Schenck fest: "In diesem Prozess haben sich uns allen Verbrechen ganz großen Ausmaßes enthüllt." Beweisen lassen sich offenbar nur wenige. Den Hauptangeklagten Otto Tuchel verurteilte das Gericht am 23. Februar 1973 wegen dreifachen Mordes und Beihilfe zum Mord zu einer lebenslangen Haftstrafe. Er sei der "Typ des fanatischen Judenhassers" gewesen. Als Angehöriger des Räumungskommandos habe er sich am 30. November 1941 "dieser Aufgabe mit einem kaum zu überbietenden Pflichteifer" gewidmet und "dadurch seinen Beitrag zu dieser Massenexekution" geleistet, heißt es in der Urteilsbegründung. Gleichzeitig ist das Gericht überzeugt, dass sich Tuchel "in weitaus größerem Rahmen schuldig gemacht hat". Er wird noch im Gerichtssaal festgenommen und ins Gefängnis gebracht. Ob diese Strafe in vollem Umfang vollstreckt wurde, ist nicht bekannt.
Die Mitangeklagten haben sich nach Überzeugung des Gerichts an Transport beziehungsweise Absperrung der "Umsiedlungsaktion" beteiligt. Jahnke wird wegen Beihilfe zum Mord zu drei Jahren Haft verurteilt. Richter Schenck zufolge ist er zwar "nur durch das damalige System in diese Straftaten hineingeraten". Er hätte in seiner Position jedoch "ein bisschen Sand ins Getriebe schütten können". Jahnkes Anwalt fechtet das Urteil vor dem Bundesgerichtshof an - und gewinnt. Zu einer neuen Verhandlung kommt es wegen Jahnkes inzwischen offenbar schlechtem Gesundheitszustand nicht mehr.
Max Neumann und Emil Diedrich werden ebenfalls der Beihilfe zum Mord schuldig befunden, bleiben "wegen geringer Schuld" aber straffrei. Das Landgericht beruft sich dabei auf das Militärstrafgesetzbuch vom Oktober 1940: Laut Paragraf 47 trägt der Vorgesetzte die Verantwortung für Befehle, deren Ausführung eine Straftat bedeuten. Untergebene gelten demnach als Teilnehmer, die bei geringer Schuld nicht mit einer Strafe belegt werden müssen. Wie viele NS-Verbrecher hatten sich die beiden Angeklagten während des Prozesses mit dem "Befehlsnotstand" gerechtfertigt. Sie argumentierten mit einer Gefahr für Leib und Leben, hätten sie Befehle nicht befolgt. Eine Erklärung, die Historiker und Juristen später widerlegen - selbst SS-Mitglieder seien in derartigen Fällen allenfalls versetzt worden.
Aus dem Urteil: Der erste Räumungstag am 30. November 1941
Am frühen Morgen des 30. November 1941 begannen lettische Schutzpolizisten, die im westlichen Teil des Ghettos wohnenden Menschen aus ihren Häusern zu holen. Geleitet wurden die Letten von Oberleutnant Danskop und unterstützt durch den jüdischen Ordnungsdienst des Ghettos. Es war kalt und noch dunkel, als die Räumung begann. Die Letten gingen sehr brutal vor. Wer nicht folgte, wurde geschlagen; manche wurden auch erschossen.
Die Räumung wurde von deutschen Schutzpolizisten unter Oberleutnant Albert Hesfehr beaufsichtigt. Einer von ihnen war der Zeuge Otto Tuchel. Er stellte auf der Ludsasstrasse Marschkolonnen von jeweils 1.000 Menschen zusammen. 8-10 solcher Kolonnen verliessen am 30. November 1941 das Ghetto. Sie marschierten über die Chaussee, die in Richtung Dünaburg führte, bis zum Wald von Rumbula. Nicht gehfähige Menschen wurden in Wagen hinausgefahren. Als gegen Mittag die Räumung des westlichen Ghettoteils beendet wurde, mussten Juden, die schon marschbereit angetreten waren, wieder in ihre Häuser zurückkehren. Am Wald von Rumbula angekommen, mussten die Juden ihre Wertsachen abliefern und wurden dann, nachdem sie sich wenigstens teilweise entkleidet hatten, durch ein Spalier von Polizisten in die Gruben getrieben. Dort mussten sie sich auf die Leichen der vor ihnen erschossenen Menschen legen und wurden von Deutschen mit Maschinenpistolen einzeln erschossen.
Zahlreiche Angehörige verschiedener Dienststellen verfolgten an den Gruben das Geschehen. Im Einsatz waren insgesamt etwa 1.000 Mann. Das Gericht hat nicht feststellen können, ob der Angeklagte oder Mitglieder seines Kommandos am ersten Tag der Ghettoräumung eingesetzt waren. (Vgl.: Justiz und NS-Verbrechen Bd.XLIII; Lfd.Nr.856 ,LG Hamburg, S.186)
Gegen Otto Tuchels Vorgesetzten Albert Hesfehr konnte wegen Erkrankung des Angeklagten die Hauptverhandlung nicht durchgeführt werden.( Sta Hamburg, 147 Js 6/71)
Andreas Jordan, Projektgruppe STOLPERSTEINE Gelsenkirchen. November 2024
|
↑ Seitenanfang
|
|