STOLPERSTEINE GELSENKIRCHEN

Die Dabeigewesenen - Gelsenkirchen 1933–1945


Stolpersteine Gelsenkirchen

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Von NS-Täter/innen, Profiteuren, Denunziant/innen, Schweigenden und Zuschauer/innen

Gesundheitsamt Gelsenkirchen 1934-1945

NS-Propagandaplakat zu Eugenik und Euthanasie

Die Gesundheitsämter bearbeiteten im Rahmen der Erb- und Rassepflege folgende Aufgabenfelder: die Durchührung von Zwangssteriliisationen sowie von erbbiologischen Überprüfungen vor der Vergabe von Ehestandsdarlehen, vor Eheschließungen, vor der Vergabe von Siedlerstellen, Kinderbeihilfen, Ehrenpatenschaften und des "Ehrenkreuzes der deutschen Mutter" sowie vor Einbürgerungen und Adoptionen. Außerdem begutachtete das Gesundheitsamt "Mischlinge", die einen "deutschblütigen" Partner heiraten wollten. Aus allen Untersuchungszweigen sammelte das Gesundheitsamt Daten über die Betroffenen die zumeist einer so genannten "Erbkartei" zuflossen.

Sterilisationen nach dem "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" nahmen die Amtsärzte der Gesundheitsämter nicht selber vor. Der chirurgische Eingriff wurde in Kliniken vorgenommen, in Gelsenkirchen waren das die "Vestische Frauenklinik" im Elisabeth-Krankenhaus Erle, das evangelische Krankenhaus an der Robert-Koch-Straße und das Knappschaftskrankenhaus Bergmannsheil Buer. Beim Gesundheitsamt lag die Federführung im Vorfeld des medizinischen Eingriffs.

Das Verfahren begann - mit Ausnahme der Fälle, in den die Leiter der "Heil- und Pflegeanstalten" die Sterilisierung von Insassen beantragte - mit einer Anzeige beim Gesundheitsamt. Für Ärzte, Zahnärzte, selbstständige Schwestern und Gemeindeschwestern, Masseure, Heilpraktiker, nichtärztliche Heilkundige (sogenannte Kurpfuscher), Hebammen und Leiter von Pflege-, Straf- und Fürsorgeerziehungsanstalten bestand Anzeigepflicht: Sie alle waren verpflichtet, Personen anzuzeigen, die auch nur im Verdacht standen, erbkrank zu sein. Die Gesundheitsämter gingen den Anzeigen nach bzw. stießen in vielen Fällen selbst Ermittlungen an, um Anträge auf Unfruchtbarmachung vorzubereiten. Die Recherchen begannen zumeist mit einem Blick in die Erbkartei, konnten aber auch Anfragen bei anderen Ämtern, der Polizei, beim Arbeitgeber, den Arbeitskollegen, Lehrern, Vorgesetzten der Wehrmacht und der Partei beinhalten.

Volkspflegerin

Bei den Volkspflegerinnen handelte es sich im NS um einen typischen Frauenberuf: Die Pflegerinnen arbeiteten in untergeordneter Position im sozialen Bereich und versahen ihre Tätigkeit mit vermeintlich weiblichen, mütterlichen Eigenschaften (Dienst, Fürsorge, Hilfe, Rat). Ihr Beispiel zeigt, dass Frauen nicht nur Opfer der Zwangssterilisierungspolitik waren (es wurden prozentual mehr Frauen als Männer steriliesiert), sondern dass sie auch wesentlich zu ihrer Umsetzung beitrugen. Die 1937 gegründete "Soziale Frauenschule der NS-Volkswohlfahrt" hatte bis 1944 ihren Sitz in Gelsenkirchen-Ückendorf, Knappschaftsstr. 4 - dort wurden NS-Volkspflegerinnen ausgebildet.

Eine zentrale Rolle spielten die beim städtischen Gesundheitsamt beschäftigen Volkspflegerinnen. Sie sollten bei der Durchführung des "Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" durch "Hausbesuche und Hilfe in den Beratungsstunden die Ermittlungen und Feststellungen (...) unterstützend und beratend eingreifen.

Die Arbeit der Volkspflegerinnen kann in ihrer Bedeutung für die Durchführung der Erb- und Rassegesetzgebung kaum überschätzt werden. Sie hatten einen Einblick in das häusliche und familäre Umfeld der Betroffenen. Sie ermittelten im Bedarfsfall gezielt Informationen zu Personen, viele Informationen sammelten sie aber ganz unspektakulär im Fürsorgealltag - bei der Geburt von Kindern, in der Schulzahnfürsorge usw. - und werteten sie für die Erbkartei aus. Die Bevölkerung war durch die Fürsorgerinnen in einem Maße "erbbiologisch" überwacht, von dem die Wenigsten etwas ahnten.

Wenn die erforderlichen Ermittlungen angestellt waren, wurden die Betroffenen ins Gesundheitsamt vorgeladen und "erbbiologisch" untersucht. Dabei fragten die Ärzte nach Familienumfeld und bisherige "Vorgeschichte" und untersuchten die Betroffenen auf Körper und Psyche. Wenn das Gesundheitsamt Gelsenkirchen alle Untersuchungen abgeschlossen hatte, stellte Amtsarzt Dr. Heinrich Hübner den Antrag auf Unfruchtbarmachung. Zusammen mit einem amtsärztlchen Gutachten, das Aussagen über die Familienangehörigen, "Vorgeschichte", Befund (körperlich und psychisch) enthielt, dem der ausgefüllte "Intelligenzprüfungsbogen" beigelegt war, wurde der Antrag dem Erbgesundheitsgericht Essen übersandt. Nach dem Beschluss des Gerichtes sorgte das Gesundheitsamt Gelsenkirchen für die Durchführung der Entscheidung. Kamen die betroffenen Personen der Aufforderung zur Unfruchtbarmachung nicht nach, veranlasste das Gesundheitsamt die polizeiliche Einweisung in das jeweilige Krankenhaus.

Quelle: Vgl. Fleiter, Rüdiger: Stadtverwaltung im Dritten Reich. Verfolgungspolitik auf kommunaler Ebene am Beispiel Hannovers, 2006

Diagnose "Erbkrank"

Die bereitwillig mitwirkenden Gelsenkirchener Krankenhäuser verschafften sich durch die Zwangssterilisationen, die sie durchführten, zusätzliche Einnahmen, denn jede Sterilisation wurde direkt aus der Staatskasse bezahlt. Allein zwischen 1934-1937 wurden in Gelsenkirchen 393 Frauen und 376 Männer zwangsweise sterilisiert, reichsweit waren bis Mai 1945 etwa 400.000 als "Gemeinschaftsfremde" stigmatisierte Menschen von Zwangssterilisation betroffen.

Quelle: Vgl. Diagnose "Erbkrank" in Daniel Schmidt (Hrsg.): Gelsenkirchen im Nationalsozialismus. Katalog zur Dauerausstellung, Schriftenreihe des Instituts für Stadtgeschichte. Materialien, Band 12. Essen, S. 130-137; 2017

Hilfsschüler

Gelsenkirchener Allgemeine Zeitung, Ausagabe vom 28. Februar 1936: Zahlreiche Schüler von Hilfsschulen wurden wegen "angeborenem Schwachsinn" dem Gesundheitsamt gemeldet, z.T. auf Initiative der eigenen Lehrer. Im Oberlandesgerichtsbezirk Hamm und damit auch in Gelsenkirchen funktionierte die Zusammenarbeit der Hilfschulen mit den Gesundheitsämtern reibungslos. Auf Ersuchen des Gesundheitsamtes Gelsenkirchen meldeten die Hilfsschulleiter dem Gesundheitsamt 974 Hilfschüler verschiedenen Alters. Am Beispiel der Stadt Gelsenkirchen stellte sich das Anzeigeverhalten wie folgt dar (Erhebungszeitpunkt 1937):

Anzeigende Stellen vermeintlich erbranker Menschen in Gelsenkirchen, Stand 1937

Quelle: Vgl. Jürgen Simon, Kriminalbiologie und Zwangssterilisation. Eugenischer Rassismus 1920-1945, 2001.


NS-Propaganda in der Gelsenkirchener Allgemeine Zeitung, Ausagabe vom 28.2.1936

Abschrift des nebenstehenden Artikels aus der 'Gelsenkirchener Allgemeine Zeitung', Ausagabe vom 28.2.1936:

Im Dienst der Volksgesundheit

Sitzung der Beiräte für die Angelegenheiten des Gesundheitswesens

Der gesunde Mensch ist wichtig

Oberbürgermeister Böhmer hat zu Beiräten für Angelegenheiten des Gesundheitswesens berufen die Pg* Elverfeld, Zink, Hoffmann, Greb, Daniel, Dr. Korthaus. Die Beiräte traten am Mittwochnachmittag zu ihrer ersten Sitzung unter dem Vorsitz von Amtsarzt Medizinalrat Dr. Huebner im städtischen Gesundheitsamt an der Kaiserstraße zusammen, An den Beratungen nahmen ferner teil der Stellvertreter des Amtsarztes Stadtmedizinalrat Dr. Weih und Stadtinspektor Ries, außerdem wohnte Stadtrat Dr. Wendenburg den Verhandlungen bei.
Amtsarzt Dr. Huebner begrüßte einleitend die Beiräte und rief zur gemeinsamen Arbeit im Dienste der Volksgesundheit auf. Er hielt sodann ein ausführliches Referat über die Organisation und die Arbeit des kommunalen Gesundheitsamtes und machte dabei grundsätzliche Ausführungen über die neue Gesundheitsgesetzgebung im nationalsozialistischen Staat.
Wir werden auf den inhaltsreichen Vortrag von Medizialrat Dr. Huebner noch zurückkommen, besonders auf den Teil, der sich mit den Einzelaufgaben befaßt. Für heute wollen wir nur einen Ausschnitt über die allgemeinen Richtlinien des Gesundheitswesens bringen. Dr. Huebner führte dabei u.a. aus: Bereits geraume Zeit vor Erscheinen des Gesetzes zur vereinheitlichung des Gesundheitswesens vom 3. Juli 1934 war die Zeit für eine Reform der Gesungdheitsgesetzgebung gekommen. In den letzten Jahren strömte dazu die nationalsozialistische Gedankenwelt in unser Volk und stellte ihrerseits an das Gesundheitswesen umfangreiche Forderungen. Die frühere Zeit hat zwar in der Gesunheits- und Krankenfürsorge massenhaft Erfahrungen sammeln lassen, die für den neuen Ausbau auch unersetzlich sind. Während aber diese frühere Zeit das Hauptgewicht auf den Schutz des Schwachen und Gefährdeten legte, gewissermaßen eine defensive Gesundheitspolitik betrieb, brachte die neue Zeit die offensive: Die Gesamtheit der Maßnahmen zur Verhütung erbkranken Nachwuchses und die Förderung des Starken, für das Volksganze Wertvollen.

So allerdings ist es nicht, daß nunmehr für
Heilung und Bewahrung des gesundheitlich
Schwachen kein Raum ist.

Alles menschliche Leben hat den Anspruch, menschenwürdig abzulaufen. Das bedeutet auf gesundheitlichem Gebiete: es hat Anspruch darauf, falls es krank ist, so weit gefördert zu werden, wie es der Stand der Wissenschaft erlaubt, und wenn es hilflos ist, menschenwürdig gehalten zu werden. Aber dieses Menschenwürdige darf nur in den Grenzen des Vernünftigen geschehen. Bewahrung und Behandlung von Kranken soll in einem Rahmen vor sich gehen, welcher der durchschnittlichen Lebenshaltung entspricht.

Es ist nicht zu dulden, das der unheilbar Geisteskranke seine nutzlosen Tage in Palästen verbringt und der gesundheitlich wertvolle Volksgenosse in seiner Lebenshaltung heruntergedrückt wird, weil er über Gebühr belastet wird durch die Kosteneiner exaltierten Fürsorge.

Die neue Zeit wird sich, ohne die Gebote der
Menschlichkeit aus dem Auge zu verlieren , -
mehr wie bisher für das Volksganze wert-
vollen Menschen annehmen, insbesondere des
Erbgesunden und Kinderreichen, sowohl wirt-
schaftlich wie auf gesundheitlichem Gebiete,
indem sie die denkbare mögliche Entwicklung
der vorhandenen Erbmasse fördert.

Bis vor kurzem lag das Gesundheitswesen in der Hand teils des Staates, teils der Gemeinden und darüber hinaus noch sonstigen Stellen. Der staatliche Medizianalbeamte war bis zum Inkrafttreten des Gesetzes vom 3. Juli 1934 diejenige Stelle, die für die Durchführung der Gesunheitsgesetzgebung in ihrem wesentlichen Teil zu sorgen hatte.- Als um die Jahrhundertwende in Preußen die Dienstanweisung für die Kreisärzte erschien, mußte sie eine Mittellinie innehalten und konnte bereits damals den großen Kulturzentren nicht genug geben, in deren Körperschft geignete Anwälte für weitergehende gesundheitliche Forderungen saßen. So war es natürlich, daß die großen Gemeinden freiwillig Weiteres, ihnen notwendig Erscheinendes, den neuen Erfahrungen der Wissenschaft folgendes taten, unterstützt durch freie Liebestätigkeit. Das geschah in mehr und mehr sich beschleunigendem Tempo. Die großen Gemeinden stellten also Kommunalärzte an und zentralisierten vielfach ihr Fürsorgewesen in Gesundheitsämtern. Die Folge davon war, daß staatliche und kommunale Gesundheitsbeamte, Versicherungsträger und karitative Verbände unter mehr oder weniger harter Überschneidung der Arbeitsgebiete sich im öffentlichen Gesundheitswesen beätigten. Je nach Einstellung der

* Pg=Parteigenosse

Andreas Jordan, Projektgruppe STOLPERSTEINE Gelsenkirchen. Juni 2019.

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