STOLPERSTEINE GELSENKIRCHEN

Die Dabeigewesenen - Gelsenkirchen 1933–1945


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Von NS-Täter/innen, Profiteuren, Denunziant/innen, Schweigenden und Zuschauer/innen

Franz Hartwich

Hartwig, ein Zuschauer in Polizeiuniform, ein Dabeigewesener. Im Krieg fast durch Zufall zur Polizei gekommen, versieht der Verwaltungsbeamte Franz Hartwich seinen Dienst an den Tatorten des Völkermords im Osten – er schaut zu, nimmt aber selbst (nach eigenen Angaben) nicht an den Verbrechen teil.

Franz Hartwich wird am 14. August 1904 in Wanne im Ruhrgebiet geboren. Den Großteil seines Lebens verbringt er in Buer-Beckhausen, das Ende der 20er Jahre zu einem Vorort Gelsenkirchens wird. Der gelernte Malermeister und engagierte Katholik kann während der 30er Jahre in seinem Beruf nicht recht Fuß fassen und entschließt sich kurz nach Kriegsbeginn, die Karriere eines Polizeiverwaltungsbeamten einzuschlagen. In dieser Funktion wird Hartwich ab 1943 auch außerhalb Deutschlands eingesetzt – in Weiß- russland und Lettland wird er Zeuge von Massenmord und Partisanenkrieg.

Nach 1945 arbeitet Hartwich fast 15 Jahre lang für eine Gelsenkirchener Maler-Genossenschaft, um dann wieder Verwaltungsbeamter beim Polizeipräsidium Recklinghausen zu werden. Dass ihn die Erlebnisse während des Zweiten Weltkriegs nie losgelassen haben, bezeugt der Aufwand, mit dem er jahrzehntelang seine Hinterlassenschaft anhäuft und bearbeitet. Seine Nachkriegszeit endet erst mit seinem Tod – er stirbt 1981 in einem Altersheim in Emsdetten.

Prägung im katholischen Arbeitermilieu

Franz Hartwich wird am 14. August 1904 geboren. Seine Heimat ist Beckhausen, ein kleiner Ort, der heute zu Gelsenkirchen gehört. Er wächst in den einfachen Verhältnissen des katholischen Arbeitermilieus im Ruhrgebiet auf. Der junge Franz Hartwich bringt aus der Volksschule gute Noten nach Hause. Er will aufsteigen und mehr erreichen als sein Vater.

Zwischen Weihrauch und Wanderschaft

Nach dem Besuch der Volksschule beginnt der 13jährige Franz Hartwich im Frühjahr 1918 eine Malerlehre. Er ist fest im katholischen Vereinswesen verwurzelt: Dem katholischen Jünglings- und Jungmännerverein St. Liebfrauen in seiner Heimatgemeinde Beckhausen gehört er ebenso an wie später verschiedenen Sport- und Turnvereinen mit katholischem Hintergrund.

Nach seiner Lehrzeit geht Hartwich als Geselle auf die traditionelle Wanderschaft. Er arbeitet in den folgenden Jahren in verschiedenen westdeutschen Betrieben. Seit 1924 ist er Mitglied im Katholischen Gesellenverein, der späteren Kolpingsfamilie. Im März 1928 besteht er im Alter von 23 Jahren seine Meisterprüfung in Mannheim, ein Beleg für seinen Ehrgeiz. Franz Hartwichs Talente liegen weniger im technischen, als vielmehr im organisatorischen Bereich: Bei seiner Meisterprüfung schließt er das Fach "Buchführung und Rechnungswesen" mit der Note "Sehr gut" ab.

Eingliederung in die Volksgemeinschaft

Ein Jahr nach seiner Meisterprüfung heiratet Franz Hartwich die ein Jahr jüngere Maria Schrader, die er seit langem kennt. Die Eheleute haben drei Töchter und einen Sohn, die zwischen 1930 und 1946 geboren werden. Die einsetzende Weltwirtschaftskrise verhindert den Aufbau eines eigenen Geschäfts, 1930 muss Hartwich sich arbeitslos melden. Erst 1933 gelingt es ihm, sich als Maler selbstständig zu machen.

Hartwich, jahrelang treuer Zentrumswähler, arrangiert sich mit den neuen Machthabern. Zwar gerät er wegen seiner Mitgliedschaft in der Kolpingsfamilie kurzzeitig in Konflikt mit der Deutschen Arbeitsfront (DAF), engagiert sich aber später stark in der Beckhausener Ortsgruppe der DAF. 1936 erwirbt er das SA-Sportabzeichen in Bronze. Seine Distanz zum Regime verringert sich. 1937 übernimmt Hartwich das schwiegerelterliche Haus in Beckhausen an der Flurstraße 9. Es hat den Anschein, als ob Hartwich sich mit dem nationalsozialistischen Staat auch in den Folgejahren gut arrangieren kann.

Mit der freiwilligen Feuerwehr Horst an der "Heimatfront"

Als Angehöriger der Freiwilligen Feuerwehr nimmt Hartwich häufig an Übungen zum Luftschutz teil. Mit Kriegsbeginn wird er zum Sicherheits- und Hilfsdienst (SHD) eingezogen. Mit seinem Halblöschzug (Löschzug 1 Gelsenkirchen-Horst) bezieht Hartwich Posten in einer Schule seines Heimatortes Beckhausen. Die Einheit soll bei Luftangriffen die Brandbekämpfung übernehmen.

Dazu kommt es aber nicht. Der Dienst ist einförmig und langweilig: "Wecken, Revierreinigen, Arbeitsdienst: Herrichten der Gerätschaften, Einrichten der Befehls- und Rettungsstellen, Deckungsgräben, Schutzräume usw. (...) Ausbildungserweiterung und ab 19.00 Uhr Bereitschaftsdienst." Wegen seiner Beanspruchung durch den SHD muss Hartwich sein Malergeschäft aufgeben, da er zwar im Oktober wieder Zivilist werden kann, aber immer wieder zu Übungen einrücken muss.

Ein Traumberuf

Anfang des Jahres 1940 trifft Hartwich die Entscheidung, als Verwaltungsbeamter bei der Polizei anzufangen. Dieser Beruf entspricht nicht nur seinen organisatorischen Neigungen, sondern ist zudem nicht gefährlich. Im März beginnt er den einjährigen Vorbereitungsdienst für die mittlere Verwaltungslaufbahn beim Polizeipräsidium Recklinghausen. Nach bestandener Prüfung und Ernennung zum Polizeiassistenten arbeitet Hartwich zunächst im Meldeamt. Um seine Aufstiegschancen zu verbessern, tritt er am 1. April 1941 in die NSDAP ein. Später füllt Hartwich andere Positionen im Verwaltungsapparat der Recklinghäuser Polizei aus. So gehört zeitweise die wirtschaftliche Versorgung der Luftschutzpolizei und der Polizeireserve in Datteln zu seinen Aufgaben. 1942 ernennt der Polizeipräsident Hartwich zum Beamten auf Lebenszeit.

Osteinsatz im Schatten Vernichtungskrieg und Massenmord

Im April 1943 wird Hartwich nach Weißrussland zur Reit- und Fahrschule der Polizei in Postawy versetzt. Auf seinen "Osteinsatz" hat man ihn im Winter 1942/43 mit einer kurzen militärischen Ausbildung vorbereitet. Sofort nachdem Hartwich in der Todeszone des Vernichtungskriegs ist, besteht seine erste Aufgabe darin, "Gegenstände aus dem Ghetto listenmäßig zu erfassen. Von den Einzelheiten der Liquidation der Juden will H. keine Kenntnis gehabt haben." So heißt es in einem Vernehmungsprotokoll der Nachkriegszeit. Als Verwaltungsbeamter obliegt Hartwich die Versorgung der Polizeischule für Reit- und Fahrwesen, in der neben deutschen Kräften auch litauische Schutzmannschaften ausgebildet werden. Er organisiert Verpflegungstransporte durch das umliegende unübersichtliche Gebiet und erlebt dabei die brutale Realität des Partisanenkriegs. Zudem wird er zum Zeugen des Vernichtungskriegs: Er ist in Wilna, als das dortige Ghetto liquidiert wird. Er sieht im Winter 1943/44 zu, wie das Umland von Postawy zur "Toten Zone" wird: Deutsche Einheiten verschleppen den Großteil der Bevölkerung als Zwangsarbeiter nach Deutschland. In seinem Tagebuch schreibt Hartwich von "Entartungen großen Stils".

Er äußert sich auch zum Verhältnis zu seinen Kollegen: "Echte Gemeinschaft (...) läßt zu wünschen übrig. Die Zufriedenheit kennen nur wenige, sind unstet und denken nur an sich." Als die Polizeischule in Postawy Anfang 1944 aufgelöst wird, kommt Hartwich zur Reitschule im lettischen Zagare, die in einem Schloss untergebracht ist. Ihm und seinen Kollegen bleiben aber nur noch wenige Monate, um sich als "Herren auf einem Schloß" zu fühlen, die Rote Armee rückt immer näher.

Bomben, Rückzug und Verwundung

Bereits 1943 hat Hartwichs Familie Gelsenkirchen verlassen, um bei Verwandten in Attendorn Schutz vor den Bomben der Alliierten zu suchen. Dennoch stirbt die jüngste Tochter Doris, noch ein Kleinkind, an den Folgen eines Luftangriffs. Als im Juni 1944 das Beckhausener Haus der Familie durch Bomben schwer beschädigt wird, bekommt Hartwich kurzfristig Sonderurlaub. Kaum nach Lettland zurückgekehrt, sieht er sich Ende Juli 1944 mit dem Zusammenbruch der deutschen Ostfront konfrontiert. Bedrängt von der sowjetischen Luftwaffe zieht sich die Reitschule der Polizei von Zagare Richtung Westen zurück. Ein großer Teil der Ausrüstung bleibt unterwegs liegen.

Die Einheit reiht sich in das allgemeine Chaos ein. Kaum in Königsberg angelangt, geraten die Reste der Schule in einen schweren Bombenangriff und werden fast völlig aufgerieben. Das brennende Königsberg ist Hartwichs letzter Eindruck vom Osteinsatz. Er wird für wenige Monate zurück nach Gelsenkirchen versetzt. Allerdings bleibt ihm nur wenig Zeit, sich in seine neuen Aufgaben einzuarbeiten, denn schon Anfang Januar 1945 erhält er die Order, sich als verantwortlicher Verwaltungsbeamter bei einer Fronteinheit der Polizei in der Eifel zu melden. Dort soll er den Nachschub organisieren. Ein Unterfangen, das angesichts alliierter Überlegenheit ebenso hoffnungslos ist wie der Kampf selbst.

Hartwichs Regiment hat bis Ende Februar so schwere Verluste, dass es aufgelöst werden muss. Er selbst wird im April 1945 leicht verwundet und in einem Herner Lazarett von US-Truppen entwaffnet. Danach bleibt er noch für kurze Zeit Polizist in Recklinghausen. Er kommt seiner drohenden Entlassung, als Mitglied der NSDAP muss er damit rechnen, zuvor, indem er zum 30. Juni 1945 den Dienst quittiert.

Das persönliche Wirtschaftswunder

Für Hartwich gilt es nun, die Existenz seiner Familie in der Trümmerlandschaft des Ruhrgebiets zu sichern. Er verdingt sich zunächst wieder als Maler, bevor er zu Beginn der 50er Jahre Geschäftsführer der Einkaufsgenossenschaft der Gelsenkirchener Malerinnung wird. Kurz nach dem Krieg bittet ihn jemand um eine eidesstattliche Erklärung über die Tätigkeit der Polizeischule von Postawy, in der er versichert, dass "Judenaktionen (...) nicht stattgefunden" haben. Darüber hinaus scheint Hartwich selten mit der Vergangenheit konfrontiert zu werden. Wie nicht anders zu erwarten, geht auch seine Entnazifizierung problemlos über die Bühne. Hartwich gliedert sich nahtlos in die Gesellschaft der Wirtschaftswunderzeit ein.

Eidesstattliche Erklärung von Hartwich, 1947

Abb.: Eidesstattliche Erklärung von Hartwich, 1947. Ob Hartwich durch den Kontakt zum Funkstellenführer Krofel und zum Stab über Vernichtungsaktionen Kenntnis erhielt, bleibt im Dunkeln.

Zum zweiten Mal Polizist

1959 bemüht Hartwich sich erfolgreich um eine erneute Anstellung bei der Polizeiverwaltung. Zu diesem Schritt entschließt er sich vermutlich im Hinblick auf seine Altersversorgung. Sein neues Aufgabengebiet beim Polizeipräsidium erstreckt sich unter anderem auf die Ausstellung von Dienstzeitbescheinigungen für ehemalige Polizeireservisten und Luftschutzpolizisten.

Nicht nur in dieser Hinsicht holt ihn die Vergangenheit ein. Er wird zudem von der Staatsanwaltschaft Dortmund zur Rolle der Polizeischule in Postawy vernommen. Einigen seiner ehemaligen Kameraden wird vorgeworfen, an der Ermordung von Juden beteiligt gewesen zu sein. Hartwich behauptet, dazu keine Aussagen machen zu können. Nach weiteren sieben Jahren im Verwaltungsdienst geht Franz Hartwich als Regierungsobersekretär am 28. Februar 1966 in Pension.

Pflege der Hinterlassenschaft

Während seines Ruhestands befasst sich Franz Hartwich intensiv mit seiner Vergangenheit. Im Laufe seines Lebens hat er Unmengen von Unterlagen, Fotos, Gegenständen und Aufzeichnungen gesammelt, die es nun zu ordnen gilt. Darin besteht offenbar seine persönliche Vergangenheitsbewältigung. So verfasst er auf der Basis seiner alten Dokumente ungelenke, teilweise naive Selbstzeugnisse. Auf diese Weise scheint Hartwich eine Art von Schutzmechanismus zu schaffen, bestehend aus laienhistorischer Beschäftigung, Sammelleidenschaft und Devotionalienpflege. Die Erlebnisse des Krieges haben ihn nie losgelassen. Franz Hartwich stirbt am 19. Juli 1981 in Emsdetten.

Quelle: Daniel Schmidt, Franz Hartwich – Zuschauer in Polizeiuniform

Vgl., ausführlich in: Alfons Kenkmann/Christoph Spieker (Hg.), Im Auftrag. Polizei, Verwaltung und Verantwortung. Begleitband zur gleichnamigen Dauerausstellung. Geschichtsort Villa ten Hompel, Essen 2001, S.249-264


Projektgruppe STOLPERSTEINE Gelsenkirchen. August 2017.

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