STOLPERSTEINE GELSENKIRCHEN

Gemeinsam erinnern statt Vergessen


Stolpersteine Gelsenkirchen

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HIER WOHNTE

Stolpersteine Gelsenkirchen OTTO LIEBER

JG. 1883
FLUCHT 1939
ENGLAND

HIER WOHNTE

Stolpersteine Gelsenkirchen PAULA LIEBER

GEB. MEYER
JG. 1881
FLUCHT 1939
ENGLAND

Verlegeort: Ewaldstraße 29, Gelsenkirchen

Otto Lieber im Adressbuch von Gelsenkirchen, Ausgabe 1939, Gelsenkirchen

Abb.1: Otto Lieber im Adressbuch von Gelsenkirchen, Ausgabe 1939. Das vorangestellte 'E' bedeutet "Eigentümer".

Der Kaufmann Otto Lieber, geboren am 30. Juni 1883 in Driedorf war mit Paula, geboren am 19. November 1881 in Gelsenkirchen, geborene Meyer, verwitwete Jacob, veheiratet. Aus ihrer ersten Ehe mit Sally Jacobs hatte Paula zwei in Essen-Karnap geborenen Söhne, den am 1. Dezember 1908 geborenen Ernst Jacob und Kurt Jacob, geboren am 28. Juli 1912, dieser nahm später den Nachnamen Lieber an. Kurt zog im April 1933 nach Köln und floh zu einem nicht bekannten Zeitpunkt in die USA. Sein Bruder Ernst soll 1937 nach Palästina geflohen sein, verifiziert werden konnten diese Informationen bisher jedoch nicht.

Am 20. Januar 1927 zog das Ehepaar Lieber nach Gelsenkirchen, kaufte hier ein Wohn- und Geschäftshaus an der Ewaldstraße 29. Das Ehepaar Lieber betrieb an dieser Anschrift ein Textil- und Kurzwarengeschäft und wohnte über dem Geschäft. Der am 9. Februar 1921 in Bielefeld geborene Sohn Georg starb am 1. April 1927.[1] Mit der Machtübergabe an die Nationalsozialisten 1933 war auch die Familie Lieber wie andere jüdischen Familien Gelsenkirchens einem stetig zunehmenden Verfolgungsdruck ausgesetzt, der sich auch auf die Geschäftsentwicklung und damit auf die Sicherung des Lebensunterhaltes der Betroffenen negativ auswirkte und damit unzählige Zukunftsentürfe zerstörte.

Ab dem 1. Januar 1939 war Juden das Betreiben von Einzelhandelsgeschäften und Handwerksbetrieben sowie das Anbieten von Waren und Dienstleistungen untersagt. Schon vorher wurden jüdische Geschäftsinhaber oder Grundstücksbesitzer unter (teils öffentlichen) Druck gesetzt, das Geschäft deutlich unter dem aktuellen Wert zu verkaufen oder zu übertragen. Sehr oft waren daran bisherige Mitinhaber oder Angestellte beteiligt oder dadurch begünstigt, die ihre Verbindungen zur NSDAP oder ähnlichen Nazi-Organisationen zur privaten Bereicherung einsetzten. Den Vorwand der rassischen "Säuberung des Volkskörpers von jüdischen (oder jüdisch versippten) Volksschädlingen" nutzten sie in Kenntnis des durch die Nazis ausgeübten individuellen und allgemeinen Terrors an der religiösen Minderheit. Im Herbst 1939 befanden sich von ehemals 100.000 Betrieben jüdischer Inhaber nur noch 40.000 in den Händen ihrer rechtmäßigen Besitzer.

Mit der Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben vom 12. November 1938 fanden die "Arisierungen" nur noch ihren Abschluss: Die verbliebenen Betriebe jüdischer Inhaber wurden damit zwangsweise neuen nichtjüdischen Eigentümern übereignet oder aufgelöst. Die Erlöse wurden dabei zugunsten des Deutschen Reiches konfisziert. Schmuck, Juwelen, Antiquitäten, Immo- bilien und Aktien mussten zu Preisen weit unter dem Marktwert verkauft werden oder wurden ebenfalls konfisziert. Für den jüdischen Eigentümer bedeutete dies den Ruin. Jüdische Arbeitnehmer wurden gekündigt, die Selbstständigen unterlagen einem weitgehenden Berufsverbot.

Den größten Anteil geraubten jüdischen Besitzes machten schließlich die Immobilien, als Wohn- und Geschäftshäuser, aus. Die forcierte "Arisierung" des Hausbesitzes wurde jedoch zunächst hinten angestellt. 1939 nahm der Druck auf den Verkauf jüdischen Grundbesitzes allerdings zu, gleichzeitig wurden den noch in Deutschland lebenden jüdischen Bürgerinnen und Bürgern die Mietrechte entzogen und sie sukzessive in sogenannte "Judenhäuser", einer Vorform der Ghettos, eingewiesen.

Die Gelsenkirchener Stadtchronik hält in einem Eintrag unter dem 7. Oktober 1938 fest: "(...) Im Ortsteil Resse ist die Überleitung des einzigen, dort bisher noch bestehenden Judenladens - eines Textilgeschäftes - in arische Hände im Gange. (...)"

Das Ehepaar Lieber wurde schließlich aus ihrem Haus in Resse vertrieben und gezwungen, am 27. Dezember 1938 in eines der so genannten Gelsenkirchener "Judenhäuser" an der Von-Der-Recke-Straße 4 umzuziehen. Von dort soll Otto und Paula Lieber am 22. August 1939 lt. der Angaben auf der Einwohnerkarteikarte buchstäblich in letzter Minute die Flucht nach England gelungen sein.[2]

Eine Zeitzeugin berichtet:

Frau Me.: "Ich war damals 17 Jahre alt und arbeitete als Lehrling in dem jüdischen Geschäft Lieber & Co. in Resse, Ewaldstraße. Herr und Frau Lieber, schon ältere Leute, verkauften Textil- und Kurzwaren. Herr Lieber trug das Eiserne Kreuz 1. Klasse und hatte keinerlei Befürchtungen, daß ihm etwas geschehen könnte. Seine Angestellten beschworen ihn, zu seinem Sohn, der im Ausland lebte, zu gehen, aber Herr Lieber hielt das für Unsinn. Am 8. November 1938 brach Herr Lieber zu einer Geschäftsreise auf und wollte ca. 3 Tage später wiederkommen. Er hat mich gebeten, in dieser Zeit in seiner Wohnung zu übernachten, da seine Frau krank war. Das war für mich nicht ungefährlich, denn wir arischen Lehrlinge durften offiziell nur jüdische Geschäftsräume betreten, aber nicht die Wohnungen. Ich habe mich darüber aber hinweggesetzt, weil ich ein sehr gutes Verhältnis zu dem Ehepaar Lieber hatte.

Am Nachmittag des 9. November, ca. 17 Uhr, rief plötzlich Herr Lieber aus Essen oder Bottrop an und sagte zu seiner Frau: "Schick sofort die W. nach Hause. Ich komme zurück". Dort, wo er sich befand, gab es schon die ersten Ausschreitungen gegen Juden, und er hatte wohl böse Vorahnungen. Ich bin dann auch sofort nach Hause gefahren.

Werbeanzeige der Firma Bernhard Stromann, 1936.

Abb.2: Werbeanzeige der Firma Bernhard Stromann, Ewaldstr. 26, um 1936

Am nächsten Morgen erfuhr ich die Tragödie. In der Nacht sind mehrere Männer in die Wohnung, die über dem Geschäft lag, eingedrungen und haben alles kurz und klein geschlagen, Gardinen abgerissen, Porzellan und Gläser aus den Schränken geworfen, Möbel mit Äxten zerhackt, Sessel aufgeschlitzt, Bücher zerstört und noch vieles mehr. Ich habe eine solche Zerstörungswut in meinem Leben nicht noch einmal gesehen. Herr und Frau Lieber wurden in der Nacht verhaftet, konnten dann aber nach England auswandern. Ich habe sie nie wieder gesehen. Interessanterweise wurde nur die Wohnung zerstört; das Geschäft blieb unversehrt. Es ging schon länger das Gerücht, daß Herr Lieber sein Geschäft Herrn Stromann verkaufen wollte. Herr Stromann übernahm dann auch tatsächlich das Geschäft; ob er etwas dafür bezahlt hat, weiß ich allerdings nicht." [2]

Recherchen basierend auf den Schilderungen der Zeitzeugin Me. lieferten jetzt einen weiteren Hinweis auf Kurt Lieber [4]. Nach derzeitigen Kenntnisstand soll Kurt frühzeitig Deutschland verlassen haben, nachdem er einige Zeit u.a. in Flensburg gewohnt hatte. Eine Anfrage beim Einwohnermeldeamt in Flensburg brachte keine weiteren Erkenntnisse. Kurt Lieber stellte 1957/58 einen "Antrag auf Wiedergutmachung" als Erbberechtigter nach seinem verstorbenen Vater Otto Lieber. Zu diesem Zeitpunkt wohnte Kurt Lieber in New York/USA. [5]

Die Patenschaft für die beiden Stolpersteine, die schon bald an Otto und Paula Lieber erinnern, haben Michael und Astrid Kramwinkel übernommen.

Stolpersteine für Otto und Paula Lieber, verlegt am 23. Mai 2018

Stolpersteinpatin Astrid Kramwinkel rezitierte anlässlich der Stolpersteinverlegung an der Ewaldstraße 29 ein Gedicht von Hans Magnus Enzensberger:

Stolpersteine Gelsenkirchen - Ehepaar Otto und Paula Lieber


Die Verschwundenen

Nicht die Erde hat sie verschluckt. War es die Luft?
Wie der Sand sind sie zahlreich, doch nicht zu Sand
sind sie geworden, sondern zu nichte. In Scharen
sind sie vergessen. Häufig und Hand in Hand,
wie die Minuten. Mehr als wir,
doch ohne Andenken. Nicht verzeichnet,
nicht abzulesen im Staub, sondern verschwunden
sind ihre Namen, Löffel und Sohlen.

Sie reuen uns nicht. Es kann sich niemand
auf sie besinnen: Sind sie geboren,
geflohen, gestorben? Vermißt
sind sie nicht worden. Lückenlos
ist die Welt, doch zusammengehalten
von dem was sie nicht behaust,
von den Verschwundenen. Sie sind überall.

Ohne die Abwesenden wäre nichts da.
Ohne die Flüchtigen wäre nichts fest.
Ohne die Vergessenen nichts gewiß.
Die Verschwundenen sind gerecht.
So verschallen wir auch.

(Hans Magnus Enzensberger: Die Verschwundenen, 1964 geschrieben für Nelly Sachs.
Quelle: Poetry Foundation, 1998, Contemporary German Poetry, double issue – translation by Rita Dove)

Stolpersteine Gelsenkirchen - Ehepaar Otto und Paula Lieber

Astrid Kramwinkel abschließend: "Otto und Paula Lieber - Sie waren Verschwundene. 80 lange Jahre - Mit dem heutigen Tage sind sie zurückgekehrt. Ihre Namen auf den Steinen geben uns Gelegenheit zu stolpern. Nicht mit den Füßen, sondern mit unserem Kopf und mit unseren Herzen."

Quellen:
Abb.1: Adressbuch Stadt Gelsenkirchen, Ausgabe 1939
Abb.2: Werbeanzeige in einem Heft der evangelischen Kirchengemeinde Buer Resse, 1936
[1,4] Einwohnerkartei Gelsenkirchen, StA/ISG
[2] Zeitzeugin Frau Me., in: "Die Novemberpogrome in Gelsenkirchen - Dokumente zur Reichskristallnacht", Herausgeber: Schul- und Kultur- dezernat der Stadt Gelsenkirchen, Evangelischer Kirchenkreis Gelsenkirchen, Schulamt für die Stadt Gelsenkirchen, 1988.
[3] Entschädigungsantrag Kurt Lieber (Nachverfahren Otto Lieber), StA 50/6, 6130, A285, StA/ISG
[4] Namensliste des "Wiedergutmachungsamtes" der Stadt Gelsenkirchen v. 15.10.1963, Leo Baeck Institut, New York


Projektgruppe STOLPERSTEINE Gelsenkirchen. Februar 2018. Nachtrag Mai 2018

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