STOLPERSTEINE GELSENKIRCHEN

Ausgrenzung erinnern


Stolpersteine Gelsenkirchen

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HIER WOHNTE

Verlegeort DR. HUGO ALEXANDER

JG. 1886
'SCHUTZHAFT' 1938
GEFÄNGNIS GELSENKIRCHEN
FLUCHT 1939
ENGLAND

HIER WOHNTE

Verlegeort FRITZ ALEXANDER

JG. 1928
KINDERTRANSPORT 1939
ENGLAND

HIER WOHNTE

Verlegeort HELENE ALEXANDER

GEB. REIFENBERG
JG. 1900
FLUCHT 1939
ENGLAND

Verlegeort: Von-Der-Recke-Straße 15

Dr. med. Hugo Alexander betrieb an der Bahnhofstraße 42 (Glaspassage) seine Dermatologische Praxis. Die ursprünglichen Bebauung in diesem Bereich ist nicht erhalten, auch die Straßenführung der Von-Der-Recke-Straße hat sich geändert, in den 1930er Jahren gab es auch die Grasreinerstraße noch nicht. Durch die Glaspassage gelangte man direkt auf die Gelsenkirchener Haupteinkaufsmeile, die Bahnhofstraße. Heute ist dieser nach den Zerstörungen im 2. Weltkrieg neugestaltete Bereich der Preuteplatz.

Dermatologe Dr. Hugo Alexander, Gelsenkirchen

Abb.1: Dr. Hugo Alexander, Gelsenkirchen

Der am 29. Oktober 1886 geborene Hugo Alexander stammte gebürtig aus der Kleinstadt Werther in Ostwestfalen. Wie auch seine Brüder Friedrich, Jakob, Alexander, Arnold und Schwestern Johanna und Lina zog es Hugo Alexander um 1900 in das boomende Ruhrgebiet. Das hatte zum einen wirtschaftliche Gründe, zum anderen bestand in Gelsenkirchen auch ein blühendes und vielfältiges jüdisches Leben.

Hugos Brüder Jakob und Friedrich waren in der Gelsenkirchener Konfektionsbranche tätig, ihnen gehörte u.a. auch das Kaufhaus Carsch an der Bahnhofstraße. Alex und Arnold Alexander betrieben ein Geschäft für Herren- und Knabenbekleidung in Essen, Limbecker Straße 76.

Hugos Frau Helene, die in der Familie und von Freunden "Leni" gerufen wurde, stammte aus Menden. Dort wurde sie am 18. Oktober 1900 als Tochter von Benjamin und Ida Reifenberg geboren. Das Ehepaar Hugo und Helene Alexander hatten zwei Kinder in Gelsenkirchen-Buer geborene Kinder, den am 22. September 1928 geborenen Fritz-Bernd und die am 28. August 1930 geborene Charlotte-Stefanie.

 

Stadtchronik Gelsenkirchen 13. Oktober 1938:

"Nach der Verordnung des Führers und Reichskanzlers zum Reichsbürgergesetz vom 25. Juli dieses Jahres ist bis zum 1. Oktober sämtlichen Ärzten jüdischer Abstammung die Bestallung (Approbation) entzogen worden. In der Ortspresse wird über eine Unterredung mit dem Kreisärzteführer des Emscher-Lippe-Kreises, Pg. Elverfeld, über die Auswirkung dieser Verordnung für den Groß-Kreis Emscher-Lippe berichtet. Es ist interessant, dass das Gesetz in Gladbeck und Bottrop nicht zur Anwendung zu kommen brauchte, weil es hier keine jüdischen Arzte gab. In Buer gab es bis zum 1. Oktober noch einen jüdischen Arzt, in Gelsenkirchen allerdings noch mehrere. Anfang 1933 sind in Gelsenkirchen noch 13 jüdische Ärzte tätig gewesen, von denen jedoch ein erheblicher Teil in den letzten Jahren von selbst verschwunden ist."

Jüdische Ärzte durften sich ab 1. Oktober 1938 nur noch 'Krankenbehandler' nennen und ausschließlich jüdische Patienten behandeln

Abb.: Jüdische Ärzte durften sich ab 1. Oktober 1938 nur noch 'Krankenbehandler' nennen und ausschließlich jüdische Patienten behandeln

Von der fortschreitenden Diskriminierung, Ausgrenzung und finanziellen Ausplünderung jüdischer Menschen war auch Dr. Hugo Alexander und seine Familie betroffen. So erloschen beispielsweise zum 30. September 1938 "per Gesetz" alle Approbationen jüdischer Ärzte. Sie durften sich von nun an - sofern sie eine jederzeit widerrufliche Genehmigung des Reichsinnenministeriums auf Vorschlag der Reichsärztekammer besaßen - nur noch "Krankenbehandler" nennen und ausschließlich jüdische Patienten behandeln.

Fritz-Bernd Alexander, Gelsenkirchen 1939.

Abb.2: Fritz-Bernd Alexander, Gelsenkirchen 1939. Aus dem deutschen Doppel-Vornamen wurde erst in England "Fred", zuvor in Deutschland wurde er nur Fritz gerufen.

Am 10. November 1938 wurde Dr. med. Hugo Alexander von der Gestapo verhaftet und in das Polizeigefängnis Buer eingeliefert. Zurück blieb seine Frau Helene, die angesichts der Ereignisse in der Pogromwoche und der unerwarteten Verhaftung ihres Mannes einem Nervenzusammenbruch nahe war. Sohn Fritz machte sich gemeinsam mit einem Freund auf den Weg nach Buer, er wollte seinen Vater im Gefängnis besuchen.

Der Freund kannte Buer, auf ihren Rollschuhen machten sich die beiden Freunde auf den Weg. Höhe Berger See verließen den Freund die Kräfte, Fritz sagte zu ihm: "Du kannst ja umdrehen, ich muss weiter." Die diensthabenden Polizisten ließ den Jungen tatsächlich zu seinem Vater ins Gefängnis, seine Rollschuhe in der Hand. Dort waren in einem großen Raum viele Männer, auch der Vater von Fritz. Als die gewährte Besuchszeit abgelaufen war, sagte der Vater zu seinem Sohn: "Fahre mit der Straßenbahn nach Hause, für Rollschuhe ist es schon zu spät." In der Straßenbahn sollte der Junge wieder aussteigen, weil er nur 5 Pfennig in der Hosentasche fand.

Auf sochen Rollschuhen machte sich der kleine Fritz von der Gelsenkirchener Altstadt auf den Weg nach Buer, um seinen Vater im Polizeigefängnis zu besuchen

Abb.3: Auf sochen Rollschuhen machte sich der kleine Fritz im November 1938 von der Gelsenkirchener Altstadt auf den Weg nach Buer, um seinen Vater im Polizeigefängnis zu besuchen

Ein fremder Mann bezahlte ihm dann die Fahrt nach Hause. Dort fand er seine Mutter zusammengesunken am Küchentisch sitzend vor. Sie hatte gedacht, das auch ihr Junge nicht mehr zurückkommen würde. Hugo Alexander wurde jedoch Ende Dezember wieder aus dem Polizeigefängnis entlassen. [1]

 

Exkurs: Fluchtpunkt Großbritannien

Mehr als 10.000 Kinder und Jugendliche wurden zwischen Dezember 1938 und dem Kriegsausbruch im September 1939 mit den sogenannten Kindertransporten nach Großbritannien gerettet. In der Mehrzahl waren es jüdische Kinder, unter ihnen befanden sich aber auch viele katholische, evangelische und konfessionslose Kinder jüdischer Herkunft. 9.354 Kinder kamen aus Deutschland und Österreich, fast 700 aus der Tschechoslowakei und mehr als 100 aus Danzig. Noch einmal mehr als 100 Kinder, die ursprünglich aus Deutschland stammten, konnten Polen verlassen. Sie waren, zumeist mit ihren Familien, im Oktober 1938 von deutschen Behörden als Opfer der sogenannten 'Polenaktion' über die deutsch-polnische Grenze nach Zbaszyn/Bentschen abgeschoben worden. Der letzte offizielle Kindertransport erreichte England am 2. September 1939. Mit dem Überfall auf Polen am frühen Morgen des 1. September 1939 begann der Zweite Weltkrieg und beendete zugleich die großangelegte Hilfsaktion, dank der diese Kinder nach England gelangten. Sie entkamen dem Holocaust und überlebten – oftmals als einzige ihrer Familien.

Fritz Alexander konnte mit mit einem der so genannten Kindertransporte ab Köln (Fritz besuchte in Köln die jüdische Grundschule) im Mai 1939 nach England gerettet werden. "Als der Zug über die Grenze fuhr und in Holland stoppte, kamen Damen an den Zug und reichten uns Kindern Brote und Obst! [...] Nach der Ankunft in Harwich ist ein Teil unserer Gruppe mit der Bahn nach Brighton am Ärmelkanal gebracht worden. Dort wohnte ich mit ca. achtzehn anderen Flüchtlingsjungen in einem Reihenhaus, welches als Herberge diente." Erinnerungen von Fred Alexander, Okt. 2019 [2]

Hatte Familie Alexander um 1929 an der Wittekindstraße 23 gewohnt, zogen sie in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre zur Von-Der-Recke-Straße 15. Von dort vertrieben, lebten Hugo und Helene mit Sohn Fritz und Tochter Charlotte am Stichtag der Volkszählung (17. Mai 1939) bis zu ihrer Flucht an der Bahnhofstraße 42 [3], im Hausstandsbuch dieses Hauses sind die genauen Daten festgehalten: Fritz Alexander, Anmeldung 2. Februar 1939, Abmeldung nach Brighton (England) 13. Mai 1939; Hugo Alexander, Ehefrau Helene: u. Tochter Charlotte Anmeldung 2. Februar 1939, Abmeldung nach London (England), 12. August 1939 [4]

 Auszug Hausstandsbuch Bahnhofstraße 42

Abb. 3: Familie Hugo Alexander, Auszug Hausstandsbuch Bahnhofstraße 42

Auch dem Ehepaar Hugo und Helene Alexander gelang mit Tochter Charlotte somit buchstäblich in letzter Minute die Flucht aus Nazi-Deutschland. In England traf die Familie wieder zusammen, von dort emigrierten Hugo, seine Frau Helene mit Sohn Fritz und Tochter Charlotte im März 1940 in die USA. [5] Charlotte heiratete 1955 in Hendon (England) den ebenfalls aus Werther stammenden Kurt Weinberg sel. A., sie lebt heute in einem Londoner Vorort. Dr. Hugo Alexander starb am 26. Juni 1964 in Flushing (USA), seine Frau Helene starb am 13. November 1974 ebenfalls in Flushing (USA)[6] Fritz, der sich nun Fred nannte, wurde nach dem Schul- und Universitätsabschluss Ingenieur. Mit seiner inzwischen verstorbenen Frau und zwei Söhnen lebte Fred in New York.[7]

Im Ruhestand betätigte sich Fred Alexander noch längere Zeit ehrenamtlich als "Big Apple Greeter". Die Big Apple Greeter in New York sind eine Non-Profit Organisation, freiwillige New Yorker bieten Stadtführungen für Touristen an. Dabei handelt es sich nicht um professionelle Tourguides, sondern um Menschen 'wie du und ich', die einfach gerne ihr New York und ihre Nachbarschaft zeigen möchten. Die Touren bietet der rüstige 92jährige Fred heute nicht mehr an, seiner Stadt New York City ist er jedoch treu geblieben, lebt noch heute in der pulsierenden Weltstadt.

Biografische Zusammenstellung: Andreas Jordan, Projektgruppe STOLPERSTEINE Gelsenkirchen. Juli 2020

Quellen:
Abb.1+2: Familie Alexander
Abb.3: Ausschnitt Hausstandsbuch Bahnhofstraße 42
Einwohnerkartei StA Gelsenkirchen
[1] Leserbrief, von Hermann Jürgen Kerl aus Gelsenkirchen, veröffentl. in Ruhr-Nachrichten, WAZ u. Buersche Zeitung am 11.9.1998. Kopien davon schickte Herr Kerl 2006 an Fred Alexander, den er 1998 in Gelsenkirchen kennengelernt hatte und der ihm bei dieser Gelegenheit vom Besuch des Vaters im Polizeigefängnis erzählt hatte. - Hier sei Ute Dausendschön-Gay vom Arbeitskreis "Spuren jüdischen Lebens in Werther" gedankt, die uns Kopien, die Broschüre "Spuren" und Hinweise zur Vita von Fred Alexander gegeben hat.
[2] Spuren, Jüdisches Leben in Werther, erweiterte Neuauflage 2020, S.32
[3] Hugo Alexander, Mapping the Lives, https://www.mappingthelives.org (Abruf Juli 2020)
[4] Stadtarchiv Gelsenkirchen/ISG, Hausstandsbuch Bahnhofstraße 42
[5] Spuren [6] Wolfgang Kißmer, Familien- und Heimatforschungforschung in Menden und im umliegenden Sauerland, https://www.wolfgang-kissmer.de/menden-2-1/j%C3%BCdische-familien-in-menden/familie-reifenberg/ (Abruf 5/2021)
[7] Spuren

Stolpersteine für Hugo, Helene und Fritz Alexander, verlegt am 18. Juni 2021

Stolpersteine Gelsenkirchen - Familie Hugo, Helene und Fritz Alexander Stolpersteine Gelsenkirchen - Familie Hugo, Helene und Fritz Alexander Stolpersteine Gelsenkirchen - Familie Hugo, Helene und Fritz Alexander

Stolpersteine Gelsenkirchen - Familie Hugo, Helene und Fritz Alexander

Projektgruppe STOLPERSTEINE Gelsenkirchen. Juli 2021


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