STOLPERSTEINE GELSENKIRCHEN

Ausgrenzung erinnern


Stolpersteine Gelsenkirchen

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IM GEDENKEN AN OPFER DER ZWANGSARBEIT 1940-1945
AUSGENUTZT UND AUSGEBEUTET IN DER KRIEGSWIRTSCHAFT

POLIZEIGEFÄNGNIS GELSENKIRCHEN-BUER

VON HIER AUS BEGANN FÜR VIELE UNBEKANNTE MENSCHEN
DER WEG IN DEN TOD


Verlegeort: Kurt-Schumacher-Straße Ecke Hölscherstraße (Im NS: Adolf-Hitler-Platz 4), Polizeipräsidium u. ehem. Polizeigefängnis

Stolperschwelle erinnert an erlittenes Leid und Unrecht

Sowjetische Zwangsarbeiter*innen mit Kennzeichnung 'Ost'

Abb.1: Zwangsarbeiter*innen" aus der Sowjetunion wurden mit einem blauen, rechteckigen Aufnäher mit der weißen Aufschrift "Ost" gekennzeichnet.

Stolperschwellen sind eine Sonderform der Stolpersteine, sie werden von Bildhauer Gunter Demnig gestaltet und verlegt. Stolpersteine sind jeweils einem einzelnen Individuum gewidmet, Stolperschwellen gedenken Opfergruppen und Unrechtsorten. Die Stolperschwelle in Gelsenkirchen wird auch symbolhaft im Gedenken an mehr als 40.000 Männer, Frauen und Kinder aus West- und Osteuropa verlegt, die in Gelsenkirchen zwischen 1940 und 1945 als Zivilisten oder Kriegsgefangene zur Ableistung von Zwangsarbeit in der deutschen Kriegswirtschaft und Rüstungsproduktion ausgenutzt und als billige Arbeitskräfte ausgebeutet worden sind. Der Text auf der Schwelle erinnert auch an die unbekannten Zwangsarbeitenden, für die sich der Weg in den Tod vom Polizeigefängnis nach heutigem Forschungsstand nachweisen lässt. Namenlos werden diese Toten wohl bleiben, denn Aufzeichnungen darüber, wer sie waren, fehlen.

In Industrie, Stadtverwaltung, Handel, Handwerk, Gastronomie, privaten Haushalten, kirchlichen Einrichtungen und Landwirtschaft wurden die zur Ableistung von Zwangsarbeit nach Gelsenkirchen verschleppten Menschen entrechtet, gedemütigt, misshandelt und ausgebeutet. Das Nazi-Regime vermied es, sie als Zwangsarbeiter zu bezeichnen, vielmehr wurden sie in der Behördensprache als „ausländische Arbeitskräfte“ bezeichnet. Oftmals tauchte in den Erlassen nur der Begriff „Ausländer“ auf. Die Schaltstelle zwischen dem "Arbeitseinsatz" sprich Anforderung und Verteilung der Zwangsarbeiter auf Arbeitskommandos bzw. Einsatzstellen in so genannten "Kriegswichtigen Betrieben" war auf lokaler Ebene das Arbeitsamt Gelsenkirchen. Wer Zwangsarbeiter einsetzen wollte, musste sich an das Arbeitsamt wenden. Für die Unterbringung der zivilen Fremdarbeiter waren arbeitsteilig Arbeitsamt, Deutsche Arbeitsfront und die Gewerbeaufsicht zuständig. Großunternehmen wie auch kleine Handwerksbetriebe, Kommunen und Behörden, aber auch ev. und kath. Kirche, Bauern und private Haushalte forderten immer mehr ausländische Arbeitskräfte an und waren so mitverantwortlich für das System der Zwangsarbeit.

Die Industrie profitierte von der starken Ausweitung der Produktion, die dadurch erst möglich wurde. Deutsche Beschäftigte stiegen in Vorarbeiter-Stellen auf, was wiederum zu deren höherer Entlohnung führte. So profitierte nicht nur der faschistische Staat und seine Kommunen vom System der Sklavenarbeit, sondern auch unzählige "Volksgenossen". Man brauchte nicht mal ein ausgeprägter Nazi zu sein, um trotzdem im "Dritten Reich" zu profitieren.

"Zwangsarbeit war in der Ausgrenzungsgesellschaft 1933-1945 allgegenwärtig,
Zwangsarbeit war ein Massenphänomen,
das keinem Deutschen verborgen geblieben sein konnte."

Viele Deutsche sahen in den Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern Arbeitskräfte ähnlich den Saisonarbeitern, die sie schon aus der Vorkriegszeit kannten. In der deutschen Ausgrenzungsgesellschaft waren Bezeichnungen wie Fremdarbeiter, Gastarbeiter sowie Ostarbeiter/Westarbeiter gebräuchlich. Die bewachten Kolonnen der Elendsgestalten, die in den beiden letzten Kriegsjahren vor allem in den Städten wahrzunehmen waren, wenn diese durch die Straßen zu den Einsatzstellen bzw. nach Arbeitsende zurück in Lager und Unterkünfte getrieben wurden, nahm die Bevölkerung oftmals nicht zur Kenntnis – in der Nachkriegszeit verdrängte man kollektiv die Erinnerung an diese Menschen.

Peronalkarte Alexandr Barbolin, Zwangsarbeitender Russe, zuletzt im Arbeitskommando 561R, Buer-Resse,Ewald 3/4, gestorben am 2. August 1944, Kompl. Schädelbruch (Unfall)

Abb.: Peronalkarte Alexandr Barbolin, Zwangsarbeitender Russe, zuletzt im Arbeitskommando 561R, Buer-Resse, Ewald 3/4, gestorben am 2. August 1944, Todesursache: Kompl. Schädelbruch (Unfall) - explizit wird auf "Unfall" hingewiesen. (Personalkarte: Obd memorial)

Mehr als 3.500 Zwangsarbeitende starben in Gelsenkirchen zwischen 1940-1945 durch "Arbeitsunfälle", Mißhandlungen, gezielte Tötungen, hinzu kamen Sterbefälle durch Mangelernährung und unzureichende medizinische Versorgung. Der rassistische Charakter des NS-Regimes zeigte sich auch beim Luftschutz: Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und weitere aus der faschistischen "Volksgemeinschaft" ausgegrenzte Gruppen waren von den Schutzmaßnahmen ausgeschlossen. Auf dem Hauptfriedhof in Gelsenkirchen-Buer wie auch auf den meisten anderen Gelsenkirchener Friedhöfe befinden sich die fast vergessenen Gräber von zahlreichen Kriegsgefangen und Zwangsarbeitern. Dort liegen sie zumeist als Namenlose mit ewigem Ruherecht. Der überwiegende Teil von ihnen kam aus Rußland. Für ihre Angehörigen galten sie oftmals als verschollen und bleiben es häufig bis heute. Und nicht selten wurde ihnen nach ihrem Tode nochmals Unrecht getan, denn die Rechtfertigung der Täter, man habe "Plünderer" oder "Kriminelle" getötet, hatte vielfach weiter Bestand – nicht nur in der lokalen Geschichtsschreibung.

Polizeiamt, Gelsenkirchen-Buer

Abb.2: Das 1927 eingeweihte Polizeiamt in Gelsenkirchen-Buer, einer der vielen Unrechtsorte während der Zeit der faschistischen Gewaltherrschaft 1933-1945. Im voll unterkellerten Sockelgeschoß des Gebäudes befand sich ein Polizeirevier mit Wache, zugänglich von der Straßenhalle an der Gelsenkirchener Straße (heutige Kurt-Schumacher-Straße), das Polizeigefängnis mit acht Einzel- und zwei Sammelzellen, zugänglich vom Hof sowie eine Wohnung für den Gefängnisaufseher.

Ausländische Zwangsarbeiter wurden grade in der Endphase des Krieges als Bedrohung angesehen, insbesonderen von den Polizeibehörden. "Das Prinzip der Gefahrenabwehr durch Abschreckung mittels einer Verschärfung und Brutalisierung der Maßnahmen" wurde in der Kriegsendphase zum handlungsleitenden Standard der Polizeiarbeit gegenüber den Ausländern. Es kommt zu Gewaltexzessen an KZ-Häftlingen und Zwangsarbeitern, aber auch an den eigenen "Volksgenossen", an deutschen Soldaten und Zivilisten, die nicht mehr an den propagierten "Endsieg" glauben wollen.


Unrechtsort Polizeipräsidium Gelsenkirchen-Buer, hinter der in der Bildmitte sichtbaren Mauer befand sich das Polizeigefängnis

Abb.: NS-Unrechtsort Polizeipräsidium Gelsenkirchen-Buer, Rückseite. Hinter der in der Bildmitte sichtbaren Mauer befand sich das im Sockelgeschoß des Gebäudes befindliche Polizeigefängnis.


NS-Unrechtsort Polizeipräsidium Gelsenkirchen-Buer, Rückseite des erhaltenen Gebäudes heute.

Abb.: Februar 2019, Blick auf den Zellentrakt des ehemaligen Polizeigefängnisses, die Gefängnismauer wurde nach dem Krieg abgetragen.

Polizeigefängnis Gelsenkirchen-Buer

Das Gefängnis im Gebäude des Polizeiamtes Buer, Adolf-Hitler-Platz 4, unterstand der Aufsicht des 13. Polizeireviers Buer-Mitte. Ein Beamter des 13. Reviers, Polizeimeister Alois Tappe, wurde 1938 der Gefängnisaufseher. Für viele Zwangsarbeiter und andere NS-Gegner begann im Polizeigefängnis der Weg in den Tod. Gefängnisaufseher Tappe schilderte in einer Vernehmung nach 1945, das die Belegungsstärke während seiner Tätigkeit pro Monat durchschnittlich 25-30 Personen betragen habe. Das habe sich Ende 1944 geändert, danach sollen es etwa 45 Personen monatlich gewesen seien. Über die Zu- und Abgänge der Inhaftierten habe allein Gestapo u. Kripo verfügt. Im letzten Kriegsjahr sei es dann häufiger vorgekommen, das die Gestapo Gruppen von 10-15 Personen aus dem Polizeigefängis holte und mit denen fortgefahren sei. Wohin die Menschen gebracht worden sind, sei ihm unbekannt geblieben. Die Methoden der Gestapo seien ihm jedoch bekannt gewesen. Etwa Anfang Januar 1945 wurde der Revierhauptmann Vitus Michel neuer Leiter des 13. Polizeireviers, dieser bestellte den Polizei[hauptwach]meister Christoph zum Nachfolger von Alois Tappe, dem zum Vorwurf gemacht worden war, das er Gefangenen durch Nachlässigkeiten die Flucht ermöglicht hätte.

Die Grausamkeit des NS-Regimes lässt sich nicht mehr verdrängen. Die Verbrechen "an Gefängnisinsassen und ausländischen Zwangsarbeitern durch die Gestapo replizierten die Mordmethoden der Einsatzgruppen und Polizeibataillone im Osten – nun- mehr allerdings im Reich selbst". [Anm. d. Verf.: Mehrere hundert Polizeibeamte aus Gelsenkirchen beteiligten sich ab 1939 u.a. in den Polizeibataillonen 61, 65 und 316 an Vernichtungskrieg, Massenmord und an weiteren Verbrechen gegen die Menschlichkeit]

Sie spielt sich nicht mehr fernab des täglichen Lebens der meisten Deutschen ab - an weit entfernten Frontlinien oder in deren rückwärtigen Gebieten und hinter den Zäunen und Mauern der Konzentrations- und Vernichtungslager -, sondern mitten im Kerngebiet des Deutschen Reiches, vor der "Haustür der Ausgrenzungsgesellschaft".

Besonders in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs kam es auch in Gelsenkirchen zu Massenerschießungen vor dem Hintergrund der "Sonderbehandlung" von so genannten "Ostarbeitern" durch die Polizei, aber auch zu zahllosen spontanen Gewaltakten gegen Zwangsarbeiter. Im Ruhrbergbau wurde unter Tage so mancher Totschlag, begangen von Steigern oder einfachen Kumpeln zu einem "Arbeitsunfall" umgedeutet. Die Leichen blieben oftmals einfach unter Tage. In den Fabriken und Betrieben lautete der Vorwurf oft auf "Sabotage", außerhalb auf "Plünderung". Doch um Zwangsarbeiter aufzuhängen, genügte den Gestapo-Mördern ohnehin allein schon der Verdacht, nach einem Beweis wurde oft erst gar nicht gesucht.

Gliederung der Polizei, 1940

Abb. 3: Gliederung der Polizei, 1940. In den letzten Jahren des zweiten Weltkrieges wurden insbesondere Geheime Staatspolizei (Gestapo) und Kriminalpolizei (Kripo) mehr und mehr zum Instrument des Terrors von Innen. (Zum Vergößern anklicken)

Nicht nur die Gestapo, sondern alle Sparten der deutschen Polizei waren am faschistischen Terror beteiligt, im Deutschen Reich und in allen besetzten Gebieten. Für Zwangsarbeiter aus dem Osten gab es während der NS-Zeit ein speziell geschaffenes Sonderstrafrecht, das auch außergerichtliche Hinrichtungen vorsah, von den Nazis als "Sonderbehandlung" bezeichnet.

Die Polizei erfasste die Zwangsarbeiter in ihren Herkunftsländern und bewachte sie im Reichsgebiet. Mit Verordnungen und Erlassen regelte die Gestapo die Arbeits- und Lebensbedingungen der Zwangsarbeiter und ihren Umgang mit der deutschen Bevölkerung. Besonders stark diskriminiert waren polnische und sowjetische Zivilarbeiter und kriegsgefangene Rotarmisten, ab Spätherbst 1943 auch die kriesgsgefangenen Italiener. Die Bezeichnung "Italienische Militärinternierte (IMI)" für diese Gruppe war auch eine Erfindung der Nazis, um die Italiener den Schutzmechanismen der Genfer Konvention zu entziehen, 1944 wurden die meisten von ihnen zu Zivilarbeitern erklärt.

Neben den KZ-Häftlingen bildeten ausländische Zwangsarbeitende eine weitere große Gruppe, gegen die sich die Gewalt der letzten Kriegsmonate ungebremst entludt. Sie galten als besonders gefährlich, als "Feind im Innern". Schon allein ihre große Zahl schürt bei den Deutschen Sorge, dass sie beim Heranrücken der alliierten Truppen nicht mehr zu kontrollieren sein werden: Zwölf Millionen „ausländische Arbeitskräfte“, so die damalige NS-Bezeichnung, müssen auf dem Gebiet des Deutschen Reichs für die Kriegswirtschaft schuften.

Die Grundlage für die Anwendung der sogenannten "Sonderbehandlung", worunter nach damaligem Sprachgebrauch "Hinrichtung" zu verstehen war, bestand aus einer von Hitler gebilligten Vereinbarung zwischen dem letzten Reichsjustizminister Thierack umd dem Reichsführer SS Himmler aus dem Jahr 1942. Gegen Polen und andere Angehörige der "Ostvölker" sollten keine "ordentlichen" Gerichtsverfahren durchgeführt werden. Ihre Aburteilung sollte durch die Polizei, also ein rein administrative Maßnahme, erfolgen. Diese Vereinbarung wurde allen Polizeistellen durch das Reichsicherheitshauptamt (RSHA) in Berlin mitgeteilt. Der Reichsführer SS, Himmler, der auch Chef der Polizei war, regelte in einem Erlaß im Januar 1943 auch die Durchführung. Danach sollte die "Sonderbehandlung" von der jeweiligen Staatspolizeileitstelle beim Reichssicherheitshauptamt, unter Angabe der Personalien und des Tatvorwurfs, beantragt werden. Durch einen Schnellbrief oder ein Fernschreiben sollte dann die Anordnung zur Exekution erfolgen. Zuständig für die Unterschrift war der Leiter des Amtes V im RSHA oder ein von ihm bestimmter Untergebener.

Zunächst war beabsichtigt, die jeweiligen Exekutionen in den nächstgelegenen Konzentrationslagern durchzuführen. Als selbstständiges Konzentrationslager diente bspw. das KZ Niedernhagen bei Paderborn in der Zeit von 1942 bis März 1943 als Exekutionsstätte für die Stapoleitstellen in Westfalen und Lippe. Bei der großen Zahl von Zwangsarbeitern, die in den letzten Kriegsjahren eingesetzt wurden, wurden aber auch mehr und mehr Hinrichtungen außerhalb angeordnet. Die Exekutionen wurden vielfach aus Einschüchterungsgründen in der Gegenwart anderer Ostarbeiter durchgeführt. Diese Geheimerlasse wurden mehr und mehr auch auf Fremdarbeiter anderer Nationalitäten ausgedehnt, und in der Kriegsendphase wurden sie auch gegen Deutsche gerichtet. Die Durchführungsbestimmungen von Januar 1943 hatten bereits besondere Vorschriften über die "Sonderbehandlung an Deutschen" enthalten. In der Endphase des Krieges verschärfte die Gestapo den Terror gegen die eigene Bevölkerung deutlich. Öffentliche Hinrichtungen sollten die kriegsmüde Gesellschaft vor der vorzeitigen Kapitulation abschrecken. Den Mordexzessen in den letzten Kriegsmonaten fielen hauptsächlich Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene zum Opfer. Die Gestapo ermordete viele Gefangene und bedrohte jeden, der dem Regime nicht bis zum Untergang folgen wollte.


Fernschreiben Dr. Albath, Sipo u. SD Düsseldorf, 1945 Abb. 4: Fernschreiben Dr. Walter Albath (SS-Standartenführer u. Inpekteur der Sicherheitspolizei und SD im Wehrkreis VI) vom 14. Januar 1945 an die Leiter der Stapo-Leitstellen Düsseldorf, Münster, Dortmund und Köln: "(...) Es ist in allen sich zeigenden Fällen sofort und brutal zuzuschlagen. Die Betreffenden sind zu vernichten, ohne formellen Weg vorher beim RSHA Sonderberhandlung zu beantragen. Die Leiter der Kriminalpolizeistellen sind persönlich von ihnen zu informieren. (...) (Zum Vergößern anklicken)

Dr. Albath ordnete am 26. Januar 1945 in einem Schreiben an die Leiter der Staatspolizeileitstellen Düsseldorf, Münster, Dortmund und Köln an, daß "Sonderbehandlungen" im Wehrkreis VI nun auch ohne eine vorherige Genehmigung des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) durchgeführt werden könnten. In diesen Fällen könne auch nachträglich das RSHA informiert werden. Weiter hieß es: "Dort, wo es sich um eine größere Anzahl handelt, wird nur zum Teil eine öffentliche Sonderbehandlung angebracht sein. Im übrigen kann diese stillschweigend und auch durch Erschießen erfolgen. Von Anträgen an das Reichssicherheitshauptamt auf Sonderbehandlung in einem KZ ist zukünftig abzusehen. Ich ersuche nunmehr allenthalben nach dieser Weisung zu verfahren. Sollte im gegebenen Falle gegen Bandenmitglieder, die Reichsdeutsche sind, oder sonstige Rechtsbrecher mit deutscher Staatsangehörigkeit auch die Sonderbehandlung notwendig erscheinen, und dieses könnte bei der gegenwärtigen Lage manchmal der Fall sein, so ist ein entsprechender Antrag an mich zu richten. Ich werde diese Anträge dem Höheren SS- und Polizeiführer West vorlegen, der vom Reichsführer-SS die diesbezüglichen Vollmachten erhalten hat." [Anm. d. Verf.: Höherer SS- und Polizeiführer (HSSPF) im Wehrkreis VI war Karl Gutenberger)

Am 6. Februar 1945 richtete Ernst Kaltenbrunner als Chef der Sicherheitspolizei ein Fernschreiben an alle übergeordneten Polizeidienststellen und Gestapo-Leitstellen. Danach wurde den Diensstellenleitern Entscheidungsfreiheit bei der "Sonderbehandlung von Ostarbeitern", also bei ihrer Ermordung eingeräumt. Bei "Sonderbehandlung" anderer Ausländer sowie Reichsdeutscher war lediglich eine formale Abstimmung mit dem zuständigen Befehlshaber der Sicherheitspolizei (BdS) oder dem Höheren SS- und Polizeiführer (HSSPF) notwendig. Jeder örtliche Gestapoleiter und Polizeiführer war nun dazu berechtigt, die Liquidierung von "Ostarbeitern" zu befehlen und reichsdeutsche "staatsfeindliche Elemente" für die "Sonderbehandlung" vorzuschlagen. So kam es auch in Gelsenkirchen zu zahlreichen Tötungsverbrechen, nur in einigen wenigen Fällen gab es in der Nachkriegszeit Ermittlungen. Dazu gehören die Exekutionen von Zwangsarbeitern im Stadtgarten und im Westerholter Wald.

Wehrkreis VI

Abb.5: Der Wehrkreis VI

Nach Kriegsende war es auch in Gelsenkirchen die britische Besatzungsmacht, die erste Ermittlungen u.a. zu Verbrechen in Zusammenhang mit der Tötung von Zwangsarbeitern einleitete. Neben den Tötungen wurden auch Misshandlungen von Zwangsarbeitern, die zum großen Teil Angehörige der Allierten waren, verfolgt, da sie nach der Haager Konvention als Kriegsverbrechen anzusehen waren. Die Ermittlungsergebnisse zeugen von dem deutlichen Bestreben der Beschuldigten, ihre Verantwortung so klein als möglich darzustellen. Mitunter wurde deutlich, das die mit den Ermittlungen betrauten deutschen Beamten nicht wirklich motiviert waren, Licht ins Dunkel der Endphasenverbrechen zu bringen.

Die ausländischen Opfer im Wehrkreis VI, bspw. die des Wuppertaler Burgholz-Massakers, aber auch die des "Montagsloch-Massakers" in Essen und vieler anderer Exekutionen wie das Massaker im Westerholter Wald in Buer oder die des Massakers im Stadtgarten von Gelsenkirchen, wurden Opfer des polizeilichen Sonderrechts der "Sonderbehandlung". Die Delinquenten, allesamt Ausländer*Innen, sollten durch die Polizei "erledigt" werden. "Sondergerichte, Standgerichte, besondere Gremien" oder auch "Polizeiliche Standgerichte" waren für diese vom Inspekteur der Sicherheitspolizei (IdS) Obersturmbannführer Dr. Albath ausgegebenen Vernichtungsbefehlen weder vorgesehen noch notwendig.

Aus Tätersicht bzw. aus Sicht der Strafverteidiger der Angeklagten war die „Erfindung“ eines Standgerichts die einzige juristische Chance, der Anklage zu entgehen. Wenn man beweisen könnte, dass die Hinrichtungen von einem "Gericht nach ordentlichem Verfahren" angeordnet worden wären, wäre eine Verurteilung wegen illegaler Hinrichtung abgewehrt. "Erfinder" der Standgerichts-Behauptung war ausgerechnet Dr. Walter Albath, der sogar persönlich die dezentrale Anwendung der "Sonderbehandlungen" befohlen hatte.


Festgenommene Beschuldigte werden in das Polizeigefängnis Gelsenkirchen-Buer eingeliefert

Abb.6: In Gelsenkirchen saßen erste Beschuldigte und Täter schon bald im Polizeigefängnis Buer ein - einer der Orte, an dem für viele ihrer Opfer während der NS-Gewaltherrschaft der Weg in den Tod begann.

Auf diese angebliche "Standgerichtsurteile" beriefen sich in den Nachkriegsjahren zahlreiche wegen vergleichbarer Kriegsverbrechen Angeklagte. Mit einem Erlaß vom 15. Februar 1945 konnten solche Standgerichte in den Bezirken eingerichtet werden, die "vom Feind bedroht" waren. Die Zusammensetzung dieser Standgerichte war wie folgt vorgeschrieben: ein voll ausgebildeter Richter, ein Mitglied der NSDAP, ein Offizier der Luftwaffe und ein Offizier der Waffen-SS oder der Polizei. Ankläger konnte, auf der Grundlage des Strafrechts, nur ein Staatsanwalt sein. Die britischen Ermittler kamen aber zutreffend zu dem Schluß, daß solche Standgerichte niemals gebildet worden waren oder funktioniert hätten, sondern es habe Standgerichte (in den nicht von Deutschen besetzten Gebieten) nur innerhalb von Militär, SS oder Polizei gegeben.

"Misshandlungen oder Deportation zur Zwangsarbeit oder für irgendeinen anderen Zweck von Angehörigen der Zivilbevölkerung des besetzten Gebietes oder anderen Zivilpersonen“ sind Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit" (Nürnberger Prozess von 1945/46)

Polizeigefängnis Buer: Erschießung von Zwangsarbeitenden

Am 28. März 1945, kurz vor dem Einmarsch der Amerikaner in Buer, wurde eine Gruppe von 16 männlichen und weiblichen Zwangsarbeitenden in den frühen Morgenstunden von Gestapo und Kripo aus dem Polizeigefängnis Buer über die Goldbergstraße in den Westerholter Wald getrieben, unterwegs konnte ein Zwangsarbeiter fliehen. Elf Menschen wurden im Westerholter Wald erschossen, vier Personen soll dort die Flucht gelungen sein.

Ausgelöst durch den anonymen Hinweis eines Bürgers an die Strafverfolgungsbehörden, der sich auf eine Veröffentlichung des Gelsenzentrum e.V. auf dessen Internetpräsenz zur Erschießung von Zwangsarbeitern im März 1945 im Westerholter Wald bezog, wurde 2016 ein Vorermittlungsverfahren eingeleitet. Auf meine Nachfrage zum Ermittlungsstand im Jahr 2018 teilte Oberstaatsanwalt Andreas Brendel, Leiter der "Zentralstelle im Lande Nordrhein-Westfalen für die Bearbeitung von nationalsozialistischen Massenverbrechen" in Dortmund im Juni 2018 mit, "das ein Verfahren der Staatsanwaltschaft Essen in dieser Sache am 9.6.1961 eingestellt worden ist". Eine erneute Überprüfung der Einstellung des damaligen Verfahrens durch Oberstaatsanwalt Brendel ergab, das sich, Zitat: "keine Anhaltspunkte dafür ergeben haben, das die damaligen Erschießung mit mordqualifizierenden Merkmalen durchgeführt worden ist. Da in heutigen Ermittlungsverfahren nur noch Mord verfolgt werden kann (nicht Totschlag), hatte ich keine Veranlassung, das Verfahren der Staatsanwaltschaft Essen wieder aufzunehmen."

Vor diesem Hintergrund habe ich daraufhin Ermittlungsakten im Landesarchiv NRW zu diesen Verfahren eingesehen und ausgewertet. Die Haupttäter bei der Massenexekution von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern im nordöstlich des Stadtkerns von Buer gelegenen Westerholter Wald, Kriminalsekretär Walter Marx (Gestapo-Außenstelle Gelsenkirchen-Buer) und Kriminaldirektor Otto Noack (Kriminalinspektion Gelsenkirchen-Buer), sind von sowjetischen Militärgerichten nach Kriegsende u.a. wegen der Erschießung von elf Zwangsarbeitern (Sieben Männer, vier Frauen) am 28. März 1945 im Westerholter Wald zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden. Noack befand sich von 1945 bis 1955, Marx von 1947 bis 1955 in Haft. Marx brachte zudem sieben Zwangsarbeiter zur Hinrichtung durch Erhängen in die Exekutionsstätte KZ Niederhagen und räumte auch die eigenhändige Tötung eines Zwangsarbeiters durch Erhängen ein, diese Exekution fand ebenfalls im Westerholter Wald statt.

Die getöteten Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter wurde einige Tage nach der Erschießung vom 28. März im Westerholter Wald geborgen und sollen nach Informationen des Institut für Stadtgeschichte Gelsenkirchen (ISG) auf dem Hauptfriedhof Buer begraben worden sein, auf Nachfrage teilte Dr. Daniel Schmidt (ISG) mit, das die archivierten Kriegsgräberlisten keine entsprechenden Einträge aufweisen.

Gelsenkirchen: Verbrechen in der Endphase

Die hier genannten Tötungung gehören zu einer ganzen Reihe von Endpasenverbrechen auf dem Gelsenkirchener Stadtgebiet. Dazu gehören u.a. auch die Erschießungen von Zwangsarbeitern im Stadtgarten, Erschießung von jüdischen Zwangsarbeiterinnen, die sich nach einem Bombenangriff auf die Gelsenberg Benzin AG in Gelsenkirchener Krankenhäusern in Horst und Rotthausen befanden, von dort von der Gestapo abgeholt und an unbekannten Orten erschossen wurden, die Erschießung eines Ingenieurs der Deutschen Eisenwerke in Bulmke durch den Volkssturm-Mann Johannes Mehrholz, Erschießungen von Zwangsarbeitern in Horst, Erschießung von Zwangsarbeitern auf dem Friedhof "Am Stäfflingshof" in Schalke und auch der Tod des englischen Piloten Norman Coatner Cowley in Buer, der nachdem er den Absturz seiner Maschine unbeschadet überstanden hatte, an den Folgen der ihm von Angehörigen der "Volksgemeinschaft" zugefügten Misshandlungen starb. Diese Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, denn wie viele andere Zwangsarbeiter, KZ-Häftlinge und NS-Gegner von der Gestapo im Wege der "Sonderbehandlung" in der Endphase allein in Gelsenkirchen ermordet wurden, wird sich nicht mehr feststellen lassen.

Die Stolperschwelle, die Bildhauer Gunter Demnig im Mai 2019 vor dem Polizeipräsidium Buer verlegt, wird aus Spenden finanziert. Gespendet und damit die Finanzierung und Verlegung der Stolperschwelle ermöglicht haben: Klaus Brandt, Martin Gatzemeier, Bettina Peipe, VVN-BdA Gelsenkirchen, Die Linke KV Gelsenkirchen, Gelsenzentrum e.V., Gelsenkirchen und L. Swiderski.

Quellen:
Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abt. Rheinland, Rep. 0299 Nr. 1076-1080 u. Rep. 0299 Nr. 1081
Web (Auswahl):
"Das Burgholz-Massaker – Strafverfolgung und Gedenken", http://www.njuuz.de/beitrag42350.html (Letzter Abruf 8/2018)
Frühjahr 1945: Exekutionen im Kalkumer Wald und anderswo. Die Ermittlungen der britischen War Crimes Group im Wehrkreis VI – Raum Düsseldorf, http://www.stadt-ratingen.de/bilder/41/stadtarchiv/e-books/Exekutionen_Kalkumer_Wald.pdf (Letzter Abruf 8/2018)
Literatur (Auswahl):
Bernd A. Rusinek, "Kriegsende 1945 - Verbrechen, Katastrophen, Befreiungen in nationaler und internationaler Perspektive", 2004
Stefan Goch (Hg.) "Städtische Gesellschaft und Polizei" Schriftenreihe des ISG, Beiträge Band 12, 2005
Stefan Klemp, "Nicht ermittelt" Polizeibataillone und die Nachkriegsjustiz, 2005
Kenkmann/Spieger (Hg.) Im Auftrag, Polizei, Verwaltung und verantwortung. Begleitband zur gleichnamigen Dauerausstellung im Geschichtsort Villa ten Hompel, 2001
Christopher R. Browning, Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibatallion 101 und die "Endlösung" in Polen, 8. Auflage
Klaus-Michael - Mallmann Gerhard Paul: "Die Gestapo - Mythos und Realität", 2003
Jan Erik Schulte (Hg.) "Konzentrationslager im Rheinland und in Westfalen 1933-1945, Zentrale Steuerung - Regionale Initiative"
Roland Schlenker "Ihre Arbeitskraft ist auf das schärfste anzuspannen - Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterlager in Gelsenkirchen 1940-1945", 2003
Zwangsarbeit im Ruhrbergbau während des Zweiten Weltkrieges - Spezialinventar der Quellen in nordrhein-westfälischen Archiven. Bearb. v. Holger Menne/Michael Farrenkopf, Selbstverlag des Deutschen Bergbau-Museums Bochum 2004
Beiträge zur Stadtgeschichte, Band 21: "100 Jahre Hauptfriedhof Gelsenkirchen-Buer", Verein für Orts- und Heimatkunde Gelsenkirchen-Buer, 1999
Jacek Andrzej Mlynarczyk: "Vom Massenmörder zum Lebensversicherer. Dr. Ludwig Hahn und die Mühlen der deutschen Justiz" in: Andrej Angrick, Klaus-Michael Mallmann (Hrsg.): "Die Gestapo nach 1945. Karrieren, Konflikte, Konstruktionen", 2009.

Stolperschwelle für Zwangsarbeiter, verlegt am 23. Mai 2019

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Ein Videobeitrag von den Verlegungen der ersten Stolperschwelle in Gelsenkirchen am 23. Mai 2019, die nun vor dem Polizeipräsidium in Gelsenkirchen-Buer an Opfer der NS-Zwangsarbeit erinnert:


Zusammenstellung u. Recherche: Andreas Jordan, STOLPERSTEINE Gelsenkirchen, August 2018. Editiert 11. Juni 2019

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